Der andere Frühling

Ein hochwertig gearbeitetes Hardcover, das mir der glückliche Zufall in die Hände spielte, kündigt einen lyrisch-musikalischen Spaziergang durch Riddagshausen an. – Riddagshausen? – Wikipedia, ohne dessen Hilfestellung ich verloren wäre, weiß, dass es sich um ein historisch gewachsenes Naturschutzgebiet im Osten von Braunschweig handelt, dessen Kern ein altes Teichgebiet bildet.
Hier spaziert der Autor also offensichtlich gern; hier fotografiert und verdichtet er im wahrsten Wortsinn seine Eindrücke in Gedichte nach klassischem Versmaß. Zwölf Lieder sind auf diese Weise entstanden. 43 vollfarbige Fotos illustrieren großzügig die Texte und verstärken sie damit in ihrer Wirkung.
Thematisch geht es um die Erwartung des Menschen nach dem Licht, das auf die kalte Zeit folgt. Der Autor spiegelt die Hoffnung auf die Befreiung von eisigen Fesseln wie die Sehnsucht nach Ablösung von winterlichem Trübsinn und Schwermut durch des Frühlings farbenversprühenden Frohsinn. Er beschreibt den Aufbruch der Natur in neues Leben als Aufforderung an den Menschen, sich aufzurichten und neue Wege einzuschlagen.
Die Sammlung beginnt mit dem Klanggedicht »Winterüberdruss«, einem klassisch gearbeiteten Sonett mit 14 metrisch gesetzten Zeilen. Diese Gedichtform beherrscht Eberhard Kleinschmidt formvollendet, wie er bereits mit seinem Band »Stationen – Sonette um Freundschaft und Liebe – Ein Zyklus« bewiesen hat.
Kleinschmidts lyrischer Bilderbogen ist insgesamt klangbetont gearbeitet und in unterschiedliche Reimschemata gefasst. Der Dichter verwendet als Versilbungsprinzip konsequent Endreime, die mal männlich stumpf, mal weiblich klingend, mal dreisilbrig reich auftreten.
Einen Höhepunkt des Buches bildet die Ballade »Der neue Pygmalion«. Hier schildert der Autor die Kraftlosigkeit des sagenhaften Bildhauers, der verzweifelt am Boden liegt, als sich ein Fenster öffnet und der hereinströmende Frühling ihn und seine Leidenschaft neu erweckt. Pygmalion schafft aus einem Marmorblock eine Traumgestalt, die ihm den knospenden Frühling verkörpert und die durch die Macht der Götter schließlich zum Leben erweckt wird.
Dieser ursprüngliche auf Ovid basierende Stoff wurde von George Bernard Shaw zu einer Komödie verarbeitet, die wiederum Grundlage für das Broadway-Musical »My Fair Lady« war. Damit schließt sich der Bogen zum Lied »Es grünt so grün …« und Klavierimprovisationen, mit denen Peer Kleinschmidt auf einer beiliegenden CD die Texte rahmt und klangmalerisch nachzeichnet. Auf der CD werden die zwölf Gedichttexte vom Autor selbst vorgetragen, der sich in der gelungenen Vater-Sohn-Präsentation auch nach als Rezitator profiliert.
So entstand im Ergebnis ein kleines Gesamtkunstwerk, das Freunden klassischer Dichtkunst Anregung und Freude beschert.


Genre: Lyrik
Illustrated by Unbekannter Verlag

Stationen

Wer von Sonetten spricht, der denkt an Shakespeare. Seine Klanggedichte mit jeweils 14 Zeilen in fester Metrik erschienen erstmals 1609, also vor mehr als 400 Jahren.

William Shakespeare, über dessen wahre Identität sich die Forschung leidenschaftlich streitet, gilt als der König des Sonetts »in jambischen Pentameter mit weiblicher oder männlicher Kadenz«, um es literaturwissenschaftlich exakt auszudrücken. Der Dichter des elisabethanischen Zeitalters hat 154 dieser fragilen Blüten erschaffen und damit einen Höhepunkt der englischen Renaissance und ihrer Widerspiegelung in Literatur und Dramatik inszeniert.

Shakespeare wendet sich an einen »fair boy« und eine »dark lady« als scheinbar homoerotische Geliebte. Er appelliert an den jungen Mann, einen schönen Nachkommen zu erzeugen, um damit unsterblich zu werden. (»Im Vers zwingst du die Sterblichkeit. / Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn, / Solang dies steht, solang wirst du bestehn.«) Er spricht über das Altern, die Eifersucht, das Alleinsein, die Furcht vor Liebesverlust, aber auch über Tod, Tugend, Redlichkeit und die Dummheit der Welt.

Mit Shakespeares Sonetten verbindet mich eine persönliche Leidenschaft. Die Texte wurden nämlich unter anderem von Martin Flörchinger ins Deutsche übertragen. DDR-Nationalpreisträger Flörchinger spielte unter Langhoff ab 1953 im »Deutschen Theater« und ab 1956 im BE. Seine Übertragung der als unübersetzbar geltenden Sonette Shakespeares durfte ich betreuen und herausgeben. Sein Buch unter dem Titel »Und Narren urteil\’n über echtes Können« ist leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Umso erfreulicher ist es, dass sich der promovierte Germanist Eberhard Kleinschmidt dem Gedicht nach klassischem Vorbild angenommen hat. Seine »Stationen« genannten 154 Sonette behandeln ebenso wie bei Altmeister Shakespeare den Themenkomplex Freundschaft und Liebe.

Der Autor versucht, die bei Shakespeare abgebildete Geschichte »neu-gewandet« als neues »Beispiel für des Lebens Spiel« (Prolog) »dem Vorbild nah, bald fern, bald von ihm abgekehrt« (Epilog) nachzuzeichnen. In Form einer Art Visionssuche (Aufstieg auf den Berg, Verweilen, Abstieg) ist das lyrische Ich der Dichter-Figur auf der Suche nach sich selbst und seiner Freundschafts- und Liebesbeziehung.

Kleinschmidt reflektiert in seiner Lyrik das eigene Sein und sein fortwährendes Tasten, Suchen, Spüren und Finden. Seine Verse sprechen vom Wandel der Gestalten, vom immerwährenden Kampf um das Entfachen von Liebe, Zuneigung und Nähe. Der Dichter begreift das Leben als wechselhaftes Spiel, das ihn mit seinen sowohl ernsten wie heiteren Seiten immer wieder neu gefangen nimmt. So nähert er sich gedanklich dem Vorbild Shakespeare und schließt den Bogen.

»Stationen« ist ein filigran gewirktes Werk, das gefangen nehmen kann, so man sich darauf einlässt.


Genre: Lyrik
Illustrated by Döring Braunschweig