Karte und Gebiet

Houellebecq zählt zu den umstrittensten Literaten unserer Zeit. Für sein jüngstes Werk »Karte und Gebiet« erhielt er den Prix Goncourt, den bekanntesten französischen Literaturpreis. Der flüssig geschriebene Gesellschaftsroman über den Kunstbetrieb ist bizarr, verstörend und verfügt über eine unwiderstehliche Sogwirkung.

Im ersten Teil von »Karte und Gebiet« liefert Michel Houellebecq eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie aus einem relativ unbekannten Fotografen, dessen enzyklopädischer Ehrgeiz darin besteht, einen erschöpfenden Katalog der Gegenstände menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter zu erstellen, ein bedeutender Künstler wird: Jed Martin verliebt sich auf einer Autofahrt mit seinem Vater, einem reichen Architekten, in die Welt der Michelin-Regionalkarten. Er nimmt Details dieser Kartenwerke mit Hilfe einer alten Plattenkamera so verzerrt auf, dass daraus eigenständige Landschaftsaufnahmen entstehen.

Bei einer Gruppenausstellung, zu der er eingeladen wird, präsentiert Martin eine dieser Aufnahmen in Ermangelung anderer eigener Kunstwerke. Seine Arbeit erregt das Interesse einer Russin, die für Michelin tätig ist und den weltabgewandt lebenden Fotografen auch körperlich unter ihre Fittiche nimmt. Sie führt ihn in die Pariser Kunstschickeria ein, und es dauert nicht lange, da sprechen Meinungsbildner über sein ungewöhnliches Werk, das bislang niemand gesehen hat. Schließlich eröffnet der Reifenkonzern eine Ausstellung mit Werken Martins; er wird dank geschickter Öffentlichkeitsarbeit über Nacht berühmt und zum Superstar der Kunstszene.

»Die Karte ist interessanter als das Gebiet« lautet der Titel der Werkschau und darauf bezieht sich auch der Titel des Romans. In kurzer Zeit verdient Jed ein kleines Vermögen mit Abzügen seiner Werke und wird gefeiert. Doch als seine Freundin ihn verlässt und wieder in ihre russische Heimat verschwindet, um dort für den Konzern tätig zu sein, schmeißt er die Kartenfotografie hin und wendet sich neuen Ideen zu.

Hat Jed Martin den ersten Teil seiner Karriere damit verbracht, der Essenz der Industrieprodukte dieser Welt auf die Spur zu kommen, widmet er den zweiten Teil seiner künstlerischen Laufbahn ihren Herstellern. Es entstehen realistische Gemälde von Vertretern bestimmter Berufsgruppen, dabei gehören die Mächtigen der Wirtschaft wie Bill Gates und Steve Jobs zu den von ihm Abgebildeten.

Als sich der Einzelgänger nach langen Jahren der Zurückgezogenheit zu einer Ausstellung seiner Porträts entschließt, nimmt er Kontakt zum Schriftsteller Houllebecq auf, damit dieser ein Vorwort für den Katalog verfasst. Eine seltsame Beziehung entsteht zwischen den beiden ähnlich abgeschieden lebenden Männern, wobei Houllebecq als weitaus verkommener und egozentrischer skizziert wird. Im Ergebnis porträtiert der Maler den Schriftsteller, weil dieser ihn thematisch reizt. Nach der Ausstellung schenkt er ihm das Gemälde, obwohl erhebliche Summen dafür geboten werden. Der Maler ist nun ein schwerreicher Mann, der durch den Verkauf seiner anderen Gemälde lebenslang ausgesorgt hat. Er meint, die Welt der Kunst verlassen zu müssen und will in Zukunft ein friedliches, freudloses und endgültig neutrales Leben führen.

Der dritte Teil des Buches behandelt erstaunlicherweise nicht den Fortgang der Geschichte um Jed Martin. Der Erzähler beginnt einen Kriminalroman, der so wirkt, als sei er ursprünglich getrennt geschrieben und dann angepasst und angehängt worden. Jedenfalls schildert Houellebecq, wie eine Mordkommission sein eigenes Ende ermittelt. Sein Kopf liegt neben dem seines Hundes sorgfältig mit einem Laserskalpell abgeschnitten und auf Sofakissen drapiert, ein unappetitliches Stillleben von Fleischteilen, abgelösten Knochen, eingetrocknetem Blut und Fliegenschwärmen bietet sich den ermittelnden Beamten.

Die Ermittler tappen vollkommen im Dunkel, das Mordopfer lebte zurückgezogen, telefonierte kaum und pflegte auch keine Kontakte zur Außenwelt. In diesem Kapitel wird neben dieser ungewöhnlichen und durchaus reizvollen Perspektive auf das Leben und den Charakter des einzelgängerischen Verfassers auch dessen Vorliebe für die Nutzung von Wikipedia deutlich. So pflegt er immer wieder umfangreiche Sachbeiträge über Hunde, Städte, Krankheiten, Insekten und andere Themen in den Erzählfluss ein, als müsse der Text gestreckt werden. Das ist aber vollkommen überflüssig, denn »Karte und Gebiet« liest sich flüssig und benötigt keine Beweise, dass sein Verfasser das Googeln beherrscht.

Erst im zehnten Kapitel der Mordstory taucht Jed Martin wieder auf. Polizisten erkennen ihn unter den wenigen Trauergästen, die zu Houellebecqs Beisetzung erscheinen, und damit wird der Bogen zum eigentlichen Protagonisten des Romans wieder hergestellt. Er besichtigt auf Bitten der Polizei den Tatort und bemerkt, dass sein Porträt des Schriftstellers verschwunden ist. Damit scheint das Motiv der grausigen Tat klar, denn das Gemälde ist inzwischen Millionen wert. Doch erst im Epilog des Romans wird der Fall durch Zufall aufgeklärt. Martin erhält das Porträt wie von Houellebecq testamentarisch verfügt, zurück und verkauft es schließlich, um den Rest seines Lebens allein in einem eingefriedeten Gelände in der Provinz zu verbringen und dort Videos zu drehen.

»Karte und Gebiet« ist sowohl thematisch wie auch stilistisch ein faszinierend verstörendes Kunstwerk. Es geht bei der Nachzeichnung der Künstlerbiografie Martins vordergründig um Kunstproduktion, die Lebens- und Arbeitsweise von Kunstkäuzen und ihre Wirkung auf die Gesellschaft. Doch da ist mehr: Vor allem das Einflechten der eigenen Person sowie die bizarre Steigerung in die eigene Ermordung und Wirkung weit über den Tod hinaus wird von Houellebecq meisterhaft angegangen und gelöst.

Houellebecqs Themen sind der Zerfall der Persönlichkeit, die Entfremdung des Künstlers, das Paradoxon des menschlichen Daseins, der vom Kapitalismus gefesselte Kunstmarkt. Quasi auf einem Nebenschauplatz wird noch die beredete Schweigsamkeit einer belasteten Vater-Sohn Beziehung eingeflochten. Besonders spannend sind in dem Roman die Angleichung und das Verschmelzen der Figuren des Malers und des Schriftstellers, denen Empathie weitgehend fremd ist. Obwohl sie sich nicht anfreunden (können), kann der eine durchaus als Alter Ego des anderen interpretiert werden.

Im weiteren Sinne mag der ungewöhnlich reif wirkende Roman damit sowohl als allgemeine Karikatur des Kunstmarktes und der mit ihm verflochtenen Akteure wie als individuelle Kartographie der Wesensart Houellebecqs und damit eine Art Autobiographie verstanden werden. Mein Fazit: Für Menschen mit einem innerlichen Verhältnis zur Kunstproduktion, den Allüren ihrer Repräsentanten und der Schwermut des in der Schöpfungsphase befindlichen Individuums unbedingt lesenswert.


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

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