Wenn es Vögel regnet
Zu den erfreulichsten Lesefrüchten zählt eine etwaige Horizonterweiterung, der bereichernde Blick in unbekannte Welten, den uns Lektüre bescheren kann. Der Roman «Ein Leben mehr» der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier wurde in ihrer Heimat mit diversen Preisen geehrt, seine Geschichte entführt uns auf solch unbekanntes Terrain, in eine unwegsame, lebensfeindliche Wildnis. Ort des Geschehens nämlich sind die tiefen Wälder im Norden Kanadas, in der seine hoch betagten Protagonisten als menschenscheue Einsiedler leben, – der begehrte Blick ins Unbekannte ist also gegeben.
Drei alte Männer haben sich vom Leben total zurückgezogen in die absolute Freiheit, sie wohnen einsam und allein in selbstgebauten einfachen Hütten tief im Wald, an einem malerischen See, jeder für sich. Zeitlich ist der Roman Anfang der 1990er Jahre angesiedelt, er beginnt damit, dass plötzlich eine junge Fotografin auftaucht, die Boychuck sucht, jenen sagenumwobenen Überlebenden des großen Waldbrandes von 1916, dem sie seit langem fasziniert nachspürt. Der ist nun gerade gestorben, der sechsundachtzigjährige Tom und der drei Jahre ältere Charly haben ihn ganz unfeierlich im Wald vergraben, schon bald wird von seiner Grabstelle nichts mehr zu sehen sein. Neben der Rente haben sie sich ein Zubrot verschafft, tief im unwegsamen Wald bauen sie Hanf an, ihr windiger vierzigjähriger Freund Bruno sorgt für den Absatz des Rauschgiftes. Als Bruno seine Tante nach sechzig Jahren aus der Psychiatrie befreit, findet die Männeridylle ein Ende, sie bauen ihr eine neue Hütte und nehmen die alte Frau in ihren Kreis auf, zwischen Charlie und ihr entsteht sogar eine zarte Altersliebe. Als die Fotografin wieder einmal zu Besuch kommt wegen der von Boychuck hinterlassenen Gemälde, trifft sie niemanden an, die Hütten sind leer, – und sie ahnt, was geschehen ist.
In getrennten Handlungssträngen erzählt die Autorin kapitelweise von den greisen Waldmenschen auf ihrem Trip der absoluten Freiheit, die auch den Tod mit einschließt, von der seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ins Irrenhaus weg gesperrten alten Tante, die nun noch eine glückliche Zeitspanne erleben darf, und von der Fotografin, die ihre Sammlung von Aufnahmen alter Menschen zusammen mit Boychucks Bildern ausstellen will. Man erfährt wenig von den Protagonisten, vieles bleibt ungesagt, die Fotografin hat keinen Namen, andere nur einen Vornamen, gleichwohl kommen einem die Figuren näher, erscheinen durchaus sympathisch mit ihrer skurrilen Persönlichkeit. Kursiv gesetzte Zwischenkapitel dienen zur Kommentierung des Geschehens durch die auktoriale Erzählerin, weisen gleichzeitig aber auch voraus auf dessen Fortgang, eine überaus originelle, mich sehr ansprechende Art einer Erzählweise aus verschiedenen Perspektiven. Die sprachliche Umsetzung ist weniger originell, völlig uninspiriert wird diese Geschichte allzu brav herunter erzählt in einer anspruchslosen Diktion.
Wenig überzeugend ist auch der Plot. An der diesen Roman wie ein roter Faden durchziehenden Geschichte von Boychucks Liebe zu den schönen, blonden Zwillingsschwestern zum Beispiel scheint selbst die Autorin Zweifel zu haben, wenn sie an einer Stelle schreibt: «Der Fotografin war die Geschichte etwas zu verquer», – mir auch, sage ich, aber nicht nur etwas! Saucier bedient wenig phantasievoll diverse gängige Klischees. Ihre Themen Waldmenschen, Schicksalsschläge, selbst bestimmter Tod, Liebe im hohen Alter sind allesamt dazu angelegt, ergänzend dazu die vielfältigsten Emotionen wachzurufen. Stärkste Geschichte im Roman ist zweifellos die dramatische Schilderung der zum Teil durch Brandrodungen verursachten, fürchterlichen Waldbrände, bei denen tatsächlich die Vögel tot vom Himmel gefallen sind wegen der immensen Hitzeentwicklung. In diesem Punkte wenigstens ist der ansonsten literarisch anspruchslose Roman dann doch tatsächlich bereichernd.
Fazit: mäßig
Meine Website: http://ortaia.de
Bücher lesen ist für mich die Phantasie und die eigenen Gedanken bedienen. Somit wird ein Buch von Lesern unterschiedlich aufgenommen. Und das bedeutet, ein glaubwürdiger Rezensent hat sich in seinem absoluten Werturteil zurückzuhalten. Das ist hier nicht der Fall.
Was hier als Bedienen von Klischees bezeichnet wird (Selbstbestimmtheit bis zum Tod), zieht sich für mich als roter Faden voll und eingängig durch das Buch. Und läßt aber gleichzeitig dem Leser Raum für eigenen Gedanken.
Eine Bewertung von Sprache in einer Übersetzung ist riskant. Und was wäre denn daran falsch, verständlich zu schreiben?
Der Rezensent möge doch bitte beschreiben, was “literarisch anspruchsvoll” wäre.
Besser als ich es je könnte, lieber Wolfdietrich, beschreibt Kritikerpapst James Wood in seinem lesenswerten Sachbuch «Die Kunst des Erzählens», was klischeefreie und anspruchsvolle Literatur ist. Ergänzend kann ich auch, gerade was die sprachlichen Aspekte anbelangt, «Die Kunst des Lesens» von Vladimir Nabokov und «Deutsche Wortarbeit» von Rene Sydow empfehlen. Weiterhin viel Spaß beim Lesen!