Vordergründig könnte man meinen, dass es sich um einen Abklatsch eines nicht ganz neuen Science-Fiction-Themas handelt. Aber weit gefehlt. Eingefleischte Literatur-Utopisten scheinen eher enttäuscht, wie manche Rezension monoman orientierter Leser zeigen.
Im März 2021 landet ein Flugzeug der Air France in New York, nachdem es kurz vor Erreichen des amerikanischen Festlandes eine Gewitterfront durchflogen hat, die die Maschine fast zum Absturz gebracht hätte. Drei Monate später, also im Juni 2021, traut der Tower des JFK Airports seinen Ohren nicht, als sich der gleiche Kapitän aus der identischen Maschine zum Landeanflug anmeldet. Nach der Landung auf einem abgeschirmten Militärflughafen stellt sich heraus, dass nicht nur Maschine und Kapitän doublierte Exemplare des März-Fluges sind, sondern dass auch die gesamte sonstige Crew und alle Passagiere exakt denen entsprechen, die bereits im März gelandet sind. Neben vielen anderen auf die schnelle organisierten Tests durch ein Heer an Wissenschaftlern und Experten bestätigen auch DNA-Abgleiche die vollständige Identität der Menschen vom März und vom Juni. Wie reagieren? Da haben weit über 200 Personen ab März ihr Leben bis Juni weitergeführt, haben nun also etwa drei Monate Lebensweg Vorsprung und die gleichen Personen aus dem Juni erfahren erst kurz nach der Landung, dass ihnen drei Monate fehlen, sie sich also noch auf dem Wissensstand vom März befinden.
Die Experten-Gruppen inklusive einiger Nobelpreisträger oder -anwärter diskutieren alle Optionen bezüglich möglicher Ursachen für diese Doppelung. Aktuell gängige Raum-Zeit-Konzepte wie die Theorien der Schwarzen Materie, des Lorentz-Wurmlochs, der multidimensionalen Faltung des Universums im Rahmen der Stringtheorie, einer perfektionierten Form des Bioprintings bis hin zu einer in seiner Dimension nicht fassbaren Computersimulation. Wobei Letzteres bedeuten würde, dass Universum und Mensch schlichtweg gut gemachte Programme sind. Matrix lässt grüßen. Wie in vielen anderen Teilbereichen dieses Buches war der Autor auch bei diesen Ansätzen zur Ursachenklärung richtig fleissig in seinen wissenschaftlichen Recherche-Arbeiten. Aber egal, ob er Philosophie, Psychologie, Flugtechnik, Astrophysik, Politik, Religion und vieles mehr einfließen lässt, ist er dabei nie kompliziert. oder zu tief einsteigend. An diesen Stellen wie auch im sonstigen Verlauf des Buches dominieren Spannung, Unterhaltung, Staunen, Mitfühlen, Mitdenken.
Was tun mit den gedoppelten, identischen Menschen? Man entschließt sich zur raschen Gegenüberstellung nach wenigen Tagen. Und nun kommt ein weiterer Kunstkniff des Autors zum Tragen. Bereits vor dem ersten Flug vom März hat er seine Leser mit einer Reihe von Einzelschicksalen vertraut gemacht, sodass man emotional wie rational vollständig in den Prozess hineingezogen wird. Was es bedeutet, wenn es den einen oder anderen nochmals gibt. Nicht als Klon, nicht als Zwilling. Nein, sondern komplett identisch. Gleiches Aussehen, gleiche Vorgeschichte, gleicher Partner, gleiche Wohnung, gleicher Job, gleiches Verhalten, gleiche Gedanken. Und hier liegt die ganz große Stärke dieses Buches. Der Autor konstruiert Situationen, die einen mitreißen, die einen zur Bewertung und zur Lösungssuche zwingen. Situationen, die dem Alltag eines jeden Menschen entspringen können. Zwischenmenschliche Beziehungen aller Art. Sorgerecht für ein Kind. Verzweifelte, unbeantwortete Liebe. Verleugnete Geschlechtsidentität. Unheilbare Krebserkrankung. Variationen aus dem unendlichen Thema Menschsein. Menschen, die bereits vor der Doppelung ein Doppelleben geführt haben. Wem gibt die Anomalie eine neue Chance – dem März- oder dem Juni-Exemplar? Oder beiden? Oder keinem?
Unweigerlich zwingt Le Tellier jeden empathischen und sensiblen Leser zu Eigenreflexionen. Wie oft ist man bemüht, sein Leben und Handeln aus der Metaebene zu betrachten, seinen „Mindset“ zu überprüfen, allenthalben eine beliebte Strategie aller Therapeuten und Coaches. Sich selbst und sein Tun zu hinterfragen. Wie wirke ich? Was mache ich von außen gesehen falsch oder richtig? Und auf einmal stehe ich mir selbst gegenüber! Ich weiß in jedem Augenblick ziemlich genau, was ich gerade denke und wie ich als nächstes reagiere. Wie würde ich selbst damit umgehen? Diesem Gedankenexperiment kann sich nach der Lektüre dieses Romanes niemand entziehen.
Eine geniale Idee, genial umgesetzt. Zu Recht hat es Le Tellier durch diesen Roman von einem international eher unbekannten bis durchschnittlichen französischen Schriftsteller zum Gewinner des Prix Goncourt geschafft. Und damit direkt ins (gefaltete?) Universum der Weltbestseller.