Kokoschkins Reise

Solitäre lakonische Diktion

Mit «Kokoschkins Reise» hat Hans Joachim Schädlich einen Jahrhundertroman geschrieben, nicht der Bedeutung nach, sondern inhaltlich. Der in breiten Leserkreisen kaum bekannte Schriftsteller schlägt darin zeitlich einen weiten Bogen, der die politischen Umbrüche und Katastrophen des Jahrhunderts in Europa abhandelt und schließlich sogar 9/11 mit einbezieht. In Anlehnung an die reale Figur des 1918 von Bolschewisten ermordeten, der Demokratischen Partei angehörenden Ministers Kokoschkin ist dessen fiktionaler Sohn Fjodor der Protagonist dieser Geschichte. Seine historische Tour d’Horizon sei quasi ein Nebeneffekt seines narrativen Vorhabens, hat er im Interview erläutert. «Ich wollte wirklich nur eine Geschichte erzählen, in deren Mittelpunkt die Konfrontation eines Einzelnen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts steht».

Dieser ‹Einzelne› ist der 95jährige Exilrusse Fjodor Kokoschkin, der sich am 8. September 2005 in Southampton auf den Luxusliner ‹Queen Mary II› einschifft. Der rüstige Pensionär, ein emeritierter Professor aus Boston, kehrt nach einer Europareise zu den Stätten seiner Kindheit und Studentenzeit nach Hause zurück. Die wechselvollen politischen Verhältnisse und materielle Nöte hatten ihn früh von seiner Mutter getrennt. Nach dem Internat ging er nach Berlin, begann ein Biologie-Studium und flüchtete dann vor den Nazis nach Prag. Glückliche Umstände verhalfen dem mittellosen jungen Studenten durch Vermittlung der dortigen Botschaft 1933 schließlich zu einem Stipendium in den USA, er durfte dorthin auswandern. In Boston schloss er sein Studium ab und gelangte als Spezialist für Gräser und Halme zu akademischen Ehren. 1968 lernte er dann bei einem ersten Europa-Besuch in Prag den deutlich jüngeren Jakub Hlaváček kennen. Dieser Freund hatte Kokoschkin nun auf auch seiner mutmaßlich letzten Europareise begleitet.

Der Roman ist, in der nur wenige Tage dauernden Erzählebene der Gegenwart, neben der Prozedur zur Einschiffung in fünf nach Tagen auf See gegliederte Kapitel unterteilt und endet mit der Ankunft in New York. In Tischgesprächen mit anderen Passagieren, Begegnungen bei den verschiedensten Veranstaltungen an Bord und so manchem Barbesuch erzählt Kokoschkin in der zweiten Erzählebene aus seiner bewegten Vergangenheit. Dabei fungieren seine verschiedenen Gesprächspartner zumeist als reine Zuhörer oder Stichwortgeber, er berichtet in langen Passagen aus seinem Leben. Diese in direkter Rede erzählten Rückblicke enthalten neben den politischen Themen einiges an Intertextualität, vor allem Iwan Bunin wird häufig genannt und in längeren Passagen auch zitiert. Wladislaw Chodassewitsch und seine Frau Nina Berberowa gehören ebenfalls mit zu den engen Freunden von Kokoschins Mutter, sie folgt ihnen schließlich sogar nach Paris. Häufig geht der Protagonist in seinen Erzählungen auf besonders schöne Bauwerke ein, bewundert Kunstwerke und genießt ganz bewusst den Luxus, den er sich als renommierter Wissenschaftler im Alter leisten kann.

Auffallend ist die große Gelassenheit, mit der Kokoschkin aus seinem durchaus nicht immer erfreulich verlaufenen Leben berichtet, ein derartiger Gleichmut den politischen Zumutungen gegenüber ist allenfalls durch die Milde des Alters zu erklären. Hans Joachim Schädlich erzählt seine Geschichte in einer für ihn typischen, hoch verdichteten Sprache, die von der schnörkellosen Verkürzung auf das Nötigste lebt, die bei allem, was sie sagt, vermeidet, es direkt auszusprechen. Der Text wirkt dadurch natürlich eher als nüchterner Bericht denn als mitreißende, angenehm unterhaltende Erzählung. Diese lakonische Diktion, im Feuilleton und in Kollegenkreisen als solitär bewundert, versteckt ihre Botschaft quasi zwischen den Zeilen. Sie erfordert damit einen stets aufmerksam mitdenkenden und sensiblen Leser.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert