Predigt auf den Untergang Roms

Ein kühnes Unterfangen

Mit dem Roman «Predigt auf den Untergang Roms» hatte Jérôme Ferrari 2012 seinen Durchbruch als Schriftsteller, er gewann den Prix Goncourt, die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Wie in seinen anderen Werken geht es auch hier um das Scheitern, schon der Titel spielt ja auf die Warnung von Augustinus an, der von der Überheblichkeit der Römer und vom Untergang des römischen Reiches gepredigt hat. Der Autor nutzt sein Wissen als Philosophie-Lehrer und seine Milieu-Kenntnisse, um die hehren Gedanken des Kirchenvaters vom Werden und Vergehen auf eine Bar in einem korsischen Dorf anzuwenden, Religion und Philosophie also der für eine Bar spezifischen Männergier nach Alkohol und Frauen gegenüber zu stellen. Ein kühnes Unterfangen!

Philosophie-Student Matthieu, ein Leibnitz-Apologet, und sein aus Sardinien stammender Freund Libero, leidenschaftlicher Augustinus-Spezialist, übernehmen eine schlecht gehende Dorfkneipe im Landesinneren von Korsika, an der schon viele Pächter ökonomisch gescheitert sind. Mit kreativen Ideen in eine Bar verwandelt, haben sie dort sehr schnell großen Erfolg, zu dem vor allem vier junge, attraktive Frauen beitragen, die sie als Kellnerinnen eingestellt haben. Von weit her kommt nun Kundschaft angefahren, das Geschäft floriert. Und auch ein Gitarrist belebt mit seinem – leider unüberhörbar stümperhaften – Spiel gleichwohl die Tristesse der ehemaligen Kneipe. Besonders die kesse Annie lockt die Männer an, sie küsst jeden männlichen Gast zur Begrüßung und fasst ihm dabei wie selbstverständlich zwischen die Beine. Schon vor der Neueröffnung lautete der gutgemeinte Rat eines in der Branche erfahrenen Freundes: «Und vor allem dürft ihr die Kellnerinnen nicht ficken». Irgendwann aber hält sich Matthieu nicht mehr daran. Damit läutet er dann letztendlich den Niedergang ein, Annie nimmt Geld aus der Kasse, es gibt Eifersüchteleien, das bisher so gute Betriebsklima leidet. Während Leibnitz-Jünger Matthieu sich in der besten aller Welten wähnt, in der Milch und Honig fließen, ekelt sich der von Augustinus intellektuell geprägte Libero inzwischen geradezu vor dem zwielichtigen Milieu, in das er da hineingeraten ist, er will aussteigen.

Den einzelnen Kapiteln seines Buches hat der Autor jeweils hochtrabende, tief religiöse Zitate von Augustinus vorangestellt, das letzte Kapitel ist sogar ganz dem Kirchenvater gewidmet. Das in Alltagssprache der Jetztzeit geschilderte, eher derbe Geschehen steht in eklatantem Gegensatz dazu. Als originär weltliche Bühne dient dabei die Bar mit ihrem ständigen Kommen und Gehen, mit all den zweifelhaften Figuren, die derartige Orte so gerne bevölkern. Wohl um den Untergang des französischen Kolonialreichs als weiteren Beleg seiner Thesen mit einzubinden, hat Ferrari auch noch eine Passage über den Großvater von Matthieu eingefügt, der diese Zeit als Soldat und späterer Diplomat miterlebt hat. Und seine Schwester, die erzählerisch den Außenblick auf Matthieu repräsentiert, ist an archäologischen Grabungen in Hippo Regius beteiligt, dem einstigen Bischofssitz von Augustinus. Der schmale Band mündet mit seiner hoch verdichteten Erzählweise in dessen These ein, dass Werden und Vergehen auf dieser Welt unterliege einem ewigen Kreislauf, in dem sich alles wiederholt und nichts wirklich verschwindet, weil die geistige Welt ja ewig bestehen bleibe.

Nach der Lektüre stellen sich Zweifel ein, ob das Gegeneinanderstellen von philosophischer Hochkultur aus den «Sermones» des Augustinus und der schnöden Underground-Szenerie einer korsischen Bar ein gelungenes Verfahren ist, den Impetus des Autors zu verdeutlichen. Denn eine wirklich tragfähige Verbindung hat er nicht herstellen können, die Augustinus-Thematik wird der mitreißend bunten, korsischen Geschichte regelrecht aufgepfropft. Stilistisch störend sind zudem die prätentiös wirkenden Satzkonstruktionen, die das Lesen dieses ambivalenten Romans schwierig machen. Das Lesen aber – lohnt sich trotzdem!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Secession Verlag Zürich

Liebe Kitty

Heute so wichtig wie ehedem

Pünktlich zu ihrem 90ten Geburtstag erschien vor wenigen Tagen unter dem Titel «Liebe Kitty» erstmals das Fragment eines Briefromans von Anne Frank, der sich auf ihr weltberühmtes Tagebuch stützt. Dem Buch ist in Anhang ein hilfreiches Essay von Laureen Nussbaum beigefügt, emeritierte Professorin der Literaturwissenschaft an der Portland State University, die nicht nur als kompetenteste Expertin der Anne-Frank-Forschung gilt, sondern die sie von ihrem Amsterdamer Exil her auch persönlich kannte, sie waren Nachbarn und gingen auf die selbe Schule. Nussbaum verdeutlicht darin die komplizierte Editionsgeschichte, denn neben der Urversion des Tagebuchs gibt es auch eine in den Monaten vor ihrer Deportation überarbeitete zweite Version, zu der Anne Frank durch einen Rundfunk-Aufruf des holländischen Exil-Ministers für Schule, Kunst und Wissenschaften angeregt wurde. Darin forderte er die Bevölkerung auf, Tagebücher und Briefe für die Zeit nach dem Krieg sorgfältig aufzubewahren, sie sollen dann als realistische Grundlage für die zukünftige Geschichtsschreibung dienen.

Durch Vermischung dieser beiden, glücklicher Weise weitgehend erhalten gebliebenen Textfassungen hat Annes Vater, der den Holocaust als einziger überlebte, nach dem Krieg die zur Veröffentlichung gelangte und bis heute gültige Tagebuch-Version zusammengestellt, – mit einigen Korrekturen seinerseits von ihm peinlich erscheinenden Textstellen. «Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‹Das Hinterhaus› herausbringen, ob das gelingt, ist auch die Frage, aber mein Tagebuch kann dafür nützlich sein». Der vorliegende «Romanentwurf in Briefen» ist der löbliche Versuch, den Wunsch Annes, «einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden», postum nun doch noch zu verwirklichen. Die «Kitty» im Buchtitel ist das gründlich überarbeitete Tagebuch selbst, die Autorin richtet darin ihre ursprünglichen Notizen in Briefform mit dem Datum des jeweiligen Tagebucheintrags in personalisierter Form an diese imaginäre Freundin.

Die 1933 vor den Nazis nach Amsterdam geflüchtete jüdische Familie Frank muss sich wegen der drohenden Deportation 1942 in einem unzugänglichen kleinen Hinterhaus-Anbau der vom Vater geleiteten Firma verstecken. Neben Anne, ihrer Schwester und den Eltern sind noch eine zweite Familie mit einem Sohn und ein Zahnarzt in dem Versteck untergebracht. Versorgt werden sie von loyalen Mitarbeitern der Firma, die sich aufopfernd und mit hohem persönlichen Risiko um die acht versteckten Juden kümmern, ein sicherlich seltener Glücksfall in dieser Zeit der Nazi-Barbarei. Das Zusammenleben auf engstem Raum, das ununterbrochene Eingesperrtsein, die ständige Angst vor Entdeckung stellt für alle eine große psychische Belastung dar, die Anne Frank in ihren Aufzeichnungen eindrucksvoll schildert. Als selbstkritischer Backfisch wird sie von inneren Zweifeln gequält, leidet unter der wenig liebevollen Beziehung zu den Eltern, hadert mit ihrer vorlauten Art, die im täglichen Umgang oft zu großen Spannungen führt, – es fällt ihr aber sehr schwer, sich zurückzuhalten. Sie flüchtet sich geradezu in das Schreiben, benutzt das Tagebuch als Ventil für ihren Frust.

Die Besonderheit dieser Prosa liegt in ihrer literarischen Doppelform als spontanes Tagebuch zur Dokumentation des Zeitgeschehens und als feinfühlig überarbeiteter, daraus entstandener Briefroman eines Mädchens in der Adoleszenz. Ohne Zweifel ist das Talent der Autorin beachtlich. Der oft deutlich erkennbare Stilbruch in dem bisher bekannten Tagebuch, entstanden durch die Vermischung jener beiden zeitlich auseinander liegenden und mit unterschiedlichem Ziel entstandenen Versionen, ist dem Vater, nicht ihr anzulasten. «Liebe Kitty» ist dagegen «aus einem Guss», aber leider Fragment geblieben. Eine literarisch interessante Lektüre, die thematisch, in Zeiten von beängstigend anwachsendem Fremdenhass, heute so wichtig ist wie ehedem.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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