Homer-Komplex
Der Roman «Il maggiore Aebi» des italienischen Schriftstellers Gianluigi Melega ist 1997 mit dem bandwurmartigen Titel «Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi» auch in Deutschland erschienen. Mit Übertretungen sind sexuelle Grenzüberschreitungen eines pathologischen Lüstlings gemeint, ein Sujet mithin, für das der Marquis de Sade hier einige Motive beigesteuert hat, SM allerdings ausgenommen. Die obsessiv ausgelebte Libertinage des steinreichen, pensionierten Majors bildet die narrative Oberfläche dieses Romans, unter der – durchaus ironisch – philosophische Betrachtungen nach dem Sinn des Lebens abgehandelt werden, und nebenbei auch noch Interna der Schriftstellerei.
Der Schweizer Major Aebi ist nach dem frühen Tod seiner Frau unerwartet reich geworden und kommt auf die famose Idee, seinem biederen Leben zu entfliehen, die Grenzen seiner geheimen Lüste auszuloten, seiner bis dato unterdrückten Sexualität nunmehr freien Lauf zu lassen. Der Sechzigjährige fährt nach Wien, um sich eine dralle junge Kellnerin, die ihm beim letzten Besuch mit seiner Frau im Hotel Sacher aufgefallen war, gefügig zu machen, was ihm mühelos gelingt. War bei Trude noch Geld im Spiel, erobert er Frau Grunwald, eine etwas ältere Filialleiterin aus der ererbten Firma, allein durch seine Überredungskünste, die bei ihr bis dato tief verborgene Gelüste auslösen, sie ihm bedingungslos hörig machen. Die Dritte im Bunde einer Ménage à quatre ist die lesbische Filmschauspielerin Gerda, die er mit tätlicher Hilfe von Frau Grunwald als weitere Gespielin dazu gewinnt. Die ausufernden Orgien dieses sexuellen Quartetts nehmen immer gewagtere Formen an, werden auch ins Freie verlegt und damit zusätzlich exhibitionistisch aufgeheizt, bis es schließlich so weit kommt, dass auch Kinder einbezogen werden. Das bringt den perversen Major letztendlich dann für sieben Jahre ins Gefängnis.
Während dieser Zeit schreibt er ein Buch über die Geschichte seiner Ausschweifungen, die er mit seiner absurden philosophischen Theorie als legitimes, sinnstiftendes Menschenrecht ansieht. Dieses unveröffentlichte Manuskript eines kriminell gewordenen Erotomanen landet nach dessen Tod bei dem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, und was der da liest, könnte von ihm selbst sein. Als Journalist beginnt er zu recherchieren, er will den nachgelassenen Text ergänzt und überarbeitet dann selbst herausbringen, wir lesen quasi das Buch im Buch. In Rückblenden berichtet er von seinen Gesprächen mit dem Wüstling und von dessen libertären Phantasien, wobei das eher dröge, schweizerische Naturell des Majors hier ironisch einen kontrastierenden Hintergrund bildet. Es geht also um perverse Altmänner-Phantasien in diesem erotischen Roman, der hart an der Grenze zur Pornografie vorbeischrammt bei den – allerdings eher distanziert beschriebenen – schamlosen Sexszenen, die bei aller Deutlichkeit aber nie abstoßend obszön wirken.
Dieses Spiel mit lasziven Phantasien wird abwechselnd aus Sicht des Majors und aus der personalen Perspektive des Ich-Erzählers in einer sehr kultivierten Sprache erzählt, mit stimmigen Dialogen, einem raffiniert konstruierten Plot folgend. Besonders reizvoll fand ich die üppige Intertextualität des Romans, immer wieder stößt man auf Bücher und Schriftsteller. Das gipfelt dann im «Homer-Komplex», einem literarischen Äquivalent zum Universalgesetz der Schwerkraft: «Es ist das Gefühl, das jeder Schriftsteller kennt: den Schöpfungsakt zu wiederholen, wie ein hypothetischer Allmächtiger die Dinge aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen. Dieses Allmachtsgefühl ist es, das alles, was man schreibt, zu etwas Neuem und Erlaubtem macht, ohne dass damit irgendein Gefühl von Schuld verbunden wäre». Den Prozess des Schreibens handelt Gianluigi Melega durch sein Alter Ego im Roman ab, dem Ich-Erzähler, der an vielen Stellen den Leser ganz direkt anspricht. Und beziehungsreich lautet schließlich der letzte Satz: «Odysseus segelte einen Meter neben mir, dem ewigen Acheron zu».
Fazit: erfreulich
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