Kinderschicksal – Kindheitstrauma
Der kärntner-slowenische Dichter Andrej Kokot auf den Spuren seiner Kindheit
Der 14. April 1942 ist ein bedeutender Tag im Leben des damals kleinen Buben und heutigen Schriftstellers Andrej Kokot. Denn da wird er mit seiner Familie, seinen Eltern und den zehn Geschwistern, so wie viele andere kärntner-slowenische Familien, vom elterlichen Hof in Oberdorf/Zgornja vas, in der Gemeinde Köstenberg/Kostanje, an der Südseite der Ossiacher Tauern gelegen, vertrieben. Grund: Sie sind Kärntner Slowenen; zu wenig deutsch, eigentlich gar nicht; sprechen eine andere Sprache, die zu sprechen verboten ist, für Volksgenossen, auf deutschem Reichsgebiet, das Österreich, das Kärnten jetzt ist.
Erst 1946 kehrt die Familie – nach langen und bitteren Jahren in der Fremde: in den Lagern Rehnitz, Rastatt und Gerlachsheim in Deutschland, nach Jahren der Freiheitsberaubung, der Erniedrigung, der ständigen Bedrohung, des Hungers und der Zwangsarbeit – wieder in das neuerstandene Österreich und nach Kärnten zurück; allerdings ohne den geliebten, ältesten Sohn und Bruder Josef/Jožek. Der war – wie die Familie erst sehr viel später erfährt – bereits am 24. September 1944 in KZ Mauthausen ermordet worden; durch Erhängen. Erst 1953, also neun Jahre später, erfährt dies die Familie durch einen per Boten des Gemeindeamtes Köstenberg überbrachten Brief, der die Sterbeurkunde von Josef Kokot enthält. „Jožek, unser Jožek ist tot“, stammelt die Mutter Magdalena Kokot. Dann bricht sie zusammen. Niemand von der Gemeinde kondoliert, spricht sein Beileid aus.
Im Gegenteil: Man gibt – so wie dem zurückgekehrten Buben Andrej Kokot in der Schule der Nachkriegszeit – den Rat „die Sache zu vergessen“. Schon längst hat im Nachkriegsösterreich die Tabuisierung der NS-Vergangenheit, die Verdrängung des eigenen Beteiligtseins, die große kollektive Verleugnung des getanen Unrechts, der eigenen Schuld und Verantwortung eingesetzt, hat alle Gesellschaftsbereiche erfaßt und durchzogen. Die Ausrede, die Verharmlosung, oder ganz einfach das Verleugnen sind die Instrumentarien der Verdrängung.
Mehr als fünfzig Jahre lang nach den Geschehnissen und der NS-Diktatur hört man in Kärnten, in Österreich kaum etwas von der Slowenenvertreibung; setzt man sich nicht mit diesem Kapitel der österreichischen Geschichte auseinander. Im Gegenteil: Die Kärntner-Slowenen werden nur als Problem begriffen, sowohl von der Politik, von verschiedenen Parteien und Organisationen (Kärntner Heimatdienst), als auch von der Gesellschaft überhaupt, der Bevölkerung; besonders der deutschsprachigen in Kärnten. Dies kommt am deutlichsten und beschämendsten beim sogenannten Ortstafelsturm 1972 in Kärnten zum Ausdruck; und darin, wie die Landes- und Bundespolitik damit umgeht, nämlich durch Beugung des Rechtsstaates, durch politischen Pragmatismus, durch letztendliche Kapitulation vor Raudis und Antidemokraten, den Slowenenhassern; durch Kapitulation vor der Gewalt.
Auch die Opfer unterliegen einer Verdrängung ihrer traumatischen Erfahrungen: Ihrer Erfahrung des Ausgesetztseins, der Bedrohung und der Gewalt, ihrer existenziellen Gefährdung, der Angst und Hilflosigkeit, ihrer Stigmatisierung durch das Anderssein – durch eine andere ethnische Zugehörigkeit; und somit auch der zu einer anderen Sprache. Dies ist und bleibt bedeutsam; vorallem für einen kleinen Buben, der sich plötzlich vertrieben in der Fremde wiederfindet, gewaltsam hinausgeworfen aus dem schützenden Nest und der Geborgenheit seiner Kindheit und Heimat. Dies gilt auch für den späteren kärntner-slowenischen Dichter und österreichischen Schriftsteller Andrej Kokot. Er verbleibt in seiner inneren Abkapselung, so wie viele seiner Volksgruppe, er bleibt in einem Ghetto, das er nur
mit seinem Schreiben und in seiner Sprache durchbricht.
Erst ein halbes Jahrhundert später begibt er sich auf die Suche nach seiner Kindheit, nach den Spuren in den Aussiedlungslagern Nazideutschlands. Er fährt mit seiner Frau und zwei seiner Schwestern an diese Orte der Vergangenheit und Verschwiegenheit. Viele Spuren sind getilgt; auch aus dem Bewußtsein der Menschen. Viele wollen sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die eigene Geschichte; oder verleugnen sie; schreiben sie um; nennen NS-Konzentrationslager sogar Straflager (der jetzige Kärntner Landeshauptmann Dr. Jörg Haider). – Strafe wofür? – muß man ob der Ungeheuerlichkeit eines solchen Ausspruches (nicht Ausrutschers!) fragen; angesichts der Ermordung von Josef/Jožek Kokot durch Erhängen in Mauthausen.
Das Ergebnis der Spurensuche von Andrej Kokot ist dieses Buch „ Das Kind, das ich war“.
Ein berührendes, ein ernstes Buch, das nachdenklich macht und machen soll. Das Ergebnis einer Erinnerungsarbeit durch Wiedervergegenwärtigung traumatischer Kindheitserlebnisse, auch wenn diese damals nicht so sehr den Buben Andreas Kokot, sondern erst viel später den Erwachsenen Andrej Kokot geprägt haben. Darüber hinaus ist dieses Buch ein Stück österreichische Gegenwartsliteratur, die sich mit Vergangenheitsbewältigung befaßt; wenn es so etwas überhaupt gibt. Vorallem aber ist es eine Mahnung, ein Warnzeichen, das wir – auch aufgrund neuer Umstände in unserem Land, in unserem Staat – dringend brauchen.