Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts

bibliothek-1Eine Lust zu lesen

Es ist jetzt mehr als zehn Jahre her, dass die Süddeutsche Zeitung mit Thomas Steinfeld als Herausgeber eine Buchreihe auf den Markt gebracht hat, deren Headline bereits auf eine ambitionierte Unternehmung hindeutet: «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts». Der vorliegende Begleitband nun, der die im Feuilleton dieser Zeitung erschienenen Patentexte zu den hundert Bänden enthält, ist eine sinnvolle Ergänzung zu diesem editorischen Großprojekt. Im Nachwort wird diese Buchreihe als eine Erfolgsgeschichte vorgestellt, mit Millionenauflage, versteht sich.

Erfreulich daran ist, dass hier einem breiteren Lesepublikum eine Fülle von hochklassigen, teilweise auch vergessenen Romanen nähergebracht wurde. Wie nahe, ist offen, zumindest aber stehen die bunten Bände in vielen Bücherschränken, wie ich in meinem Umfeld immer wieder erstaunt feststelle. Auf Nachfrage allerdings müssen dann doch viele der stolzen Bibliophilen kleinlaut zugeben, bei weitem noch nicht alles gelesen zu haben, was da in ihrem Billy-Regal schlummert. Das passende Zitat zu diesem literarischen Phänomen findet sich in Matthäus 26, 41: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!

Um es gleich vorweg zu sagen: die Lektüre lohnt sich bei fast allen dieser hundert Romane! Selbst wenn man nur einige davon gelesen hat, ist damit nicht nur die eigene Belesenheit gewachsen in puncto anspruchsvolle Literatur, man hat auf jedem Fall seinen Horizont erweitert. Womöglich hat man Sujets kennengelernt, mit denen man sich noch nie beschäftigt hat im Lesealltag, hat sprachliche Stile erlebt und vielleicht auch genossen, denen man noch nie begegnet ist, hat sich gar bestens unterhalten gefühlt dabei. Man wird auch feststellen, dass mit dem Adjektiv «groß» im Titel nicht unbedingt immer nur die literarische Qualität der Romane gemeint ist, deren Popularität wurde offensichtlich ebenfalls berücksichtigt, auffallend viele der Titel nämlich kennt man aus dem Kino. Womit ich hier aber keineswegs eine wohlfeile Kritik an der Buchauswahl vorbringe, jeder Kanon dieser Art wird immer anfechtbar sein, Kunst und damit auch Literatur entzieht sich objektiver Wertung. Allerdings, bei der berechtigten Frage, warum bei den Autoren zum Beispiel Thomas Mann oder Heinrich Böll fehlen, beide ja unbestritten zum Olymp deutschsprachiger Romanciers gehörend, wird man erstaunt feststellen, dass dieser Begleitband sich sehr beredt zu den seinerzeit bei der Auswahl angewendeten Kriterien ausschweigt, ein unverzeihliches Manko, wie ich finde.

Die klappentextartigen, jeweils zweiseitigen Besprechungen der hundert Romane sind von ausgewiesenen Literaturkennern geschrieben, Leute aus dem Feuilleton, Kritiker, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler. Es liegt jedoch in der Natur dieser sogenannten «Patentexte», dass sie im Sinne des Verlages für die Bücher werben, sich also auf keinen Fall despektierlich über sie äußern können. Hilfreich sind sie trotzdem, liefern sie doch so manche nützliche Information zu Werk und Autor. Insbesondere das Vorwort unter dem Titel «Es ist eine Lust zu lesen» ist ein Quell kluger Gedanken zu unserem Steckenpferd, dem Lesen von Romanen. «In der inneren Bibliothek des Lesers sind die Werke nach dem Maßstab ihrer Erinnerbarkeit aufgestellt», schreibt Heinz Schlaffer dort. Ältere Leser werden manches früher schon gelesen haben, mehrfache Lektüre aber «lässt am Text neue Vorzüge – oder Schwächen – entdecken, woraus auch der Leser selbst auf den Wandel seines Geschmacks und seiner Lebenserfahrung schließen darf.» Für die weniger eifrigen Leser aber hat Schlaffer mit seinem letzten Satz noch einen Trost parat: «Denn für die Kenner ist das Interesse an Literatur nicht auf den Akt gewissenhaften Lesens beschränkt; sämtliche Formen des Umgangs mit Literatur, auch die unvollständigen, tragen ihm neue Kenntnisse und Ahnungen ein.» Na bitte! Ich habe nämlich auch noch nicht alle hundert Bände gelesen.

Fazit: lesenwert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Anthologie
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Mein Klassiker

anthologie-1Berichte aus dem literarischen Olymp

Diese Anthologie unter dem Titel «Mein Klassiker» hat jüngst meine Leseneugier geweckt, verspricht doch der Untertitel «Autoren erzählen vom Lesen» einen den eigenen literarischen Horizont womöglich erweiternden Blick nicht nur auf die Rezeption berühmter Bücher, sondern eben auch auf etliche der Autoren, die über ihre diesbezüglichen Lese-Erfahrungen berichten. Es sind sechsunddreißig an der Zahl, die sich da äußern, und wie sie das tun ist genau so vielschichtig, wie es zu erwarten war bei Schriftstellern, die nun mal schreibende Solitäre sind, mit zum Teil ausgeprägtem Hang zu skurriler Andersartigkeit.

Die erste Überraschung war für mich, dass mir viele der 36 Autoren dieser Anthologie nicht mal namensmäßig bekannt waren, gelesen hatte ich nur sechs von ihnen. Mir wurde aber schnell klar, dass einige wohl mehr der Lyrik, der Dramatik oder dem Sachbuch zuzurechnen sind und schon allein deshalb aus dem Radar fallen für einen der Epik zugeneigten Prosaleser wie mich. Und wer könnte bei etwa 15.000 Belletristik-Neuerscheinungen jedes Jahr in Deutschland denn wirklich behaupten, alle Autoren zu kennen, geschweige denn gelesen zu haben. Bei meinen schamhaften und unverzüglich vorgenommenen Recherchen im Internet stieß ich prompt auch gleich auf die Formulierung «vielleicht der am meisten unterschätzte deutschsprachige Autor der Gegenwart». Genau solche Lobhudelei aber, ich nenne den Autor bewusst nicht, gilt, abhängig von der ja immer persönlichen Perspektive, vermutlich gleichermaßen für alle der hier beteiligten Schriftsteller, es hilft also in der Sache nicht weiter. Ein unlösbares Dilemma mithin für Leser, die sich halbwegs auszukennen hoffen, aber eben auch nicht annähernd alles gelesen haben können.

Eine weitere Überraschung war die Auswahl der Klassiker. Nach Vladimir Nabokovs Definition sind Klassiker in der Literatur «zeitlose Kunstwerke», denen ein «individueller Genius» innewohnt. «Klassisch ist ein literarisches Werk, wenn es gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig ist», hat Heinz Schlaffer formuliert. In bunter Folge wird in der vorliegenden Anthologie über Autoren berichtet wie auch über einzelne Werke. Ob Karl May, dem neben Anderen der erste Aufsatz gilt, in den «heiligen Hallen kanonischer Texte» beheimatet ist, muss bezweifelt werden, der Begriff Klassiker ist hier also nicht unbedingt qualitativ gemeint. Eine deutlich erkennbare Tendenz bei der Auswahl der zu besprechenden Klassiker, also der «vermeintlichen Fundamente», wie es im Vorwort skeptisch heißt, ist in vielen Fällen die Vorprägung durch Deutschstunde und Proseminar. Und so ist es auch kein Wunder, wenn die Aufsätze bis zu Ovid zurückreichen und zum «Meier Helmbrecht» ins 13te Jahrhundert. Weiter geht es über Cervantes, Petrarca, Jean Paul, Novalis, Hölderlin, Büchner, Stifter, Heine, Mörike, Goethe und Schiller bis hin zu Proust (mit 13 Seiten längster Beitrag, sic!), Thomas Mann, Tolstoi, Hamsun, Brecht, Döblin, Zweig, Robert Walser, Walter Benjamin und Gertrude Stein. Zweifellos alles literarische Olympier. Und Märchen wie «Schneeweißchen und Rosenrot» oder die «Hasenschule» bekommen ebenso ihre Bühne wie der Abenteuerroman «Ein Sturmwind auf Jamaika» von Richard Hughes oder Kriegsromane wie Hašeks «Schwejk» und Remarques «Im Westen nichts Neues». Abschließend beleuchten noch die zwei Essays «Der Leser» und «Bücher» das literarische Terrain.

Es hat sich also niemand getraut, Werke von Böll, Grass oder Lenz als Klassiker auszuwählen und zu besprechen, obwohl das mit dem heutigen zeitlichen Anstand ja durchaus angebracht wäre, ganz im Sinne von «vergangen, erinnert und gegenwärtig». Wie auch immer, diese Anthologie weist uns auf eigene Lese-Erfahrungen zurück, sie gibt zudem Anregungen für die Lektüre des einen oder anderen Klassikers sowie der beteiligten Autoren selbst, die hier kenntnisreich und zum Teil sehr unterhaltend, nicht selten sogar überraschend, aus dem literarischen Olymp berichten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Anthologie
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main