Überambitioniert erzählter Kitsch
Den Deutschen Buchpreis 2016 hat Bodo Kirchhoff mit «Widerfahrnis» gewonnen, einer Novelle um das Thema Liebe, für das der Autor als Experte gilt. Man sah ihn als solcher schon in einer Talkshow sitzen, wofür damals vermutlich der Roman «Die Liebe in groben Zügen» Anlass war. Es handelt sich um eine Roadnovel, ein dem Roadmovie entsprechendes literarisches Genre. Der insoweit typische Plot handelt von einer spontanen Autoreise an ein zunächst nicht näher bestimmtes Ziel, wobei auf dem Weg allerlei Unvorhergesehenes passiert.
Diese dreitägige Fahrt ins Blaue widerfährt dem ehemaligen Kleinverleger Reither und Leoni Palm, vordem Besitzerin eines Hutladens, beide im Pensionsalter, Bewohner eines Seniorenheims in Oberbayern, die Beiden kennen sich nicht. Der Zufall, ein von ihr anonym geschriebenes Buch, bringt sie unvermutet zusammen, sie möchte seine Meinung wissen. Man trinkt Rotwein miteinander, und Leoni schlägt ihm übermütig eine mitternächtliche Spritztour mit ihrem BMW Cabrio vor, das eingeschneit auf dem Parkplatz steht. Der spontane nächtliche Ausflug endet drei Tage später auf Sizilien, wo sie auf ein verwahrlostes kleines Mädchen treffen, das sich vermutlich illegal dort aufhält. Sie kümmern sich um die Kleine, lassen sie in ihrem Appartement übernachten. Auf der Fähre bei der Rückfahrt aber flüchtet sie in panischer Angst aus dem Auto, Leoni läuft ihr nach. Reither, der bei dieser Flucht verletzt wurde, bleibt allein zurück und verlässt auch allein die Fähre. Er wird von einem Nigerianer verarztet, der mit Frau und Säugling auf der Flucht nach Deutschland ist. Reither will die Familie dorthin mitnehmen, durch Zufall trifft er Leoni wieder, und sie gibt ihm die Schlüssel für ihre Wohnung, die Nigerianer könnten bei ihr wohnen, sie will allein weiterreisen durch Italien.
Die beiden Protagonisten eint ihr Scheitern, sie sind aus der Zeit gefallen wirtschaftlich, ihr Ruhestand ist unfreiwillig. Natürlich kommen sich die munteren Frührentner allmählich näher, ohne allerdings allzu viel von sich preiszugeben. Sie sind sich sympathisch, eine späte Liebe keimt auf zwischen ihnen, in Sizilien, wo sie nach zwei Übernachtungen im Auto erstmals ein festes Quartier nehmen, landen sie dann auch prompt im Bett miteinander. Kirchhoffs Geschichte wirkt wie am Reißbrett konstruiert, allzu forsch und selbstverliebt werden da offensichtliche Altmännerphantasien, traumatische Verlusterfahrungen, bedrückende Flüchtlingsschicksale und arrogante Überlegenheitsgefühle des wie ein Alter Ego erscheinenden Helden unmotiviert miteinander verwoben. Vieles ist an den Haaren herbeigezogen, nicht nur die Geschichte als solche. Der Nigerianer aus Lagos zum Beispiel, ein Fischer, näht Reithers tiefe Wunde an der Hand mit nicht weniger als zehn Stichen, auf offener Straße, die Utensilien dafür hat er im Fluchtgepäck, in einer Blechbüchse. Gefühlte hundert Mal zünden Reither und die bis dato nicht rauchende Leonie sich eine Zigarette an, ein kultische Handlung geradezu, die ich seit Hemingway so extensiv nicht mehr beschrieben fand, und auch der Rotwein gehört immer dazu.
Kirchhoff erzählt seine pathetische Geschichte vom verpassten Lebensglück überambitioniert, wie ein – zur Verdeutlichung übertreibendes – Lehrstück für kreatives Schreiben, in das allzu viel hineingepackt ist. Darauf deuten auch seine häufigen Anmerkungen zum Schreibprozess selbst hin, als auktorialer Erzähler lässt er den Leser an der Suche nach der richtigen Formulierung teilnehmen, was ebenfalls peinlich aufgesetzt wirkt, man fühlt sich in einen seiner Schreibkurse am Gardasee versetzt. Der Plot selbst aber ist hanebüchen, gut erzählter Kitsch, der sich schamlos der Flüchtlingsproblematik bedient. Wenn man nicht wüsste, dass Kirchhoff es besser kann, würde man diese überladene, geradezu gespreizt erzählte Geschichte kopfschüttelnd zur Seite legen und den Autor vergessen. So aber fragt man sich, wie er zu dem Preis gekommen ist.
Fazit: miserabel
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