Ein Jahr voller Wunder

Thompson_Walker_Ein_Jahr_voller__130144Was, wenn die Erde plötzlich aufhören würde, sich zu drehen? Was, wenn Tage nicht mehr länger Tage, Nächte nicht mehr länger Nächte sind? Wie lebt es sich in einer Welt, in der die Vergangenheit lang und die Zukunft kurz ist?

Julia ist ein ganz gewöhnliches kalifornisches Sonnenschein-Mädchen aus einer ganz gewöhnlichen Familie. Ein Mädchen an der Schwelle zum Teenager, im Übergang von der Middle- zur High-School, die Zeit, die in den USA Age of Miracles (so auch der Originaltitel) – ein Jahr voller Wunder genannt wird. Die größte vorstellbare Katastrophe für sie sind bis dato die Streitereien ihrer Eltern, ihre größte Verunsicherung die Irrungen und Wirrungen ihrer ersten Verliebtheit. Eines Morgens wachen Julia und ihre Eltern auf und werden jäh aus ihrem bisherigen gewöhnlichen Leben ausgebremst. Gemeinsam mit dem Rest der Welt hören sie eine globale Fernsehmeldung: Es hat eine “Verlangsamung” stattgefunden. Die Erde dreht sich langsamer, Tag und Nacht stimmen nicht länger mit dem 24-Stunden-Rhythmus überein. “Eine Zeit lang fühlten sich die Tage immer noch wie Tage an. Doch mit jedem neuen Morgen kamen wir weiter aus dem Tritt.”

Die Gesetze der Schwerkraft verschieben sich. Vögel fallen vom Himmel, Pflanzen verkümmern, Sonnenstürme gefährden die Nahrungsmittel- und Stromversorgung. Die über Nacht gewonnenen Minuten dehnen sich im Laufe der Zeit aus zu langen Licht und Nachtabschnitten. Es ist die Stunde der Weltuntergangspropheten, der Astrologen – Sternzeichen haben sich ebenfalls verschoben. “Neue Minuten tauchten überall auf. In jenen Tagen war die Zeit schwerer zu vergeuden. Die Sterbenden brauchten länger zum Sterben, die Kinder länger zum Geborenwerden. Wie hatten wir an solche viel zu einfachen Dinge wie die 24 Stunden Uhr glauben können?”

Weltweit beschließen die Regierungen in seltener Einmut, die sogenannte Uhrenzeit einzuführen. Die Menschen leben wieder nach dem gewohnten 24 Stunden Rhythmus, ungeachtet der Sonnenauf-und Untergänge. Nicht alle – manche verweigern sich der Direktive und gründen Kolonien, die nach der Echtzeit und im Konflikt mit den Uhrenzeitlern leben. Die Verlangsamung und die mit ihr einhergehende bei immer mehr Menschen auftretende Schwerkraftkrankheit zerstören das fragile Gleichgewicht zwischen Impuls und Kontrolle. Und “wir verloren mit diesem klaren Rhythmus […] ein gemeinsames Grundvertrauen.”Die Risse in Familien, in Freundschaften werden immer deutlicher, doch wären sie auch ohne die Verlangsamung je zu sehen gewesen?

Schließlich wird Nahrung rationiert, das Knacken einer Traube im Mund ist nur noch eine ferne Erinnerng. Überhaupt – Erinnerungen! Sie werden bewahrt wie verblasste Fotos aus einer fernen Zeit und bekommen eine völlig neue, nie gekannte Wertigkeit. Es ist einer der ergreifendsten Momente im Buch, wenn Julia und Seth, ihre erste zarte Liebe ihre Namen in noch nassen Zement ritzen, damit wenigstens etwas von ihnen überdauert Eines Tages werden die Server abgestellt, das Ende des Internet ist der Vorbote des Weltendes. Ein goldener Datenträger wird mit einer Super-Rakete ins All geschossen, er bewahrt und trägt die kostbarsten Erinnerungen der Menschheit. Gerüche, Erzählungen, Geräusche wie das Rauschen der Wellen

Julias Tagebuch erzählt dem staunenden Leser von diesem Jahr. Julia ist ein stilles, abwartendes, genau beobachtendes Mädchen. Das macht sie zur perfekten Erzählerin. Als Einzelkind ist sie besonders empfänglich für die Zerbrechlichkeit von Familie, Freundschaft und der ersten Liebe. Eine solche Geschichte mit der Wucht des drohendes Untergangs aus der Sicht der Unschuld und der Naivität zu schreiben ist ein bewährtes Stilmittel in der Science-Fiction und es bewährt sich auch hier, wo der Spagat zwischen einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte und einer Endzeitfiktion gewagt wird. Die Katastrophe wirkt jederzeit nachvollziehbar und realistisch, doch sie bezieht einen Großteil ihres Schreckens aus der Unsicherheit einer Jugend, von der man nicht weiß, ob ihre Protagonistin je die Chance bekommen wird, erwachsen zu werden.

Die in Brooklyn lebende Autorin Karen Thompson Walker arbeitet als Lektorin, ein Jahr voller Wunder schrieb sie in den Morgenstunden vor Arbeitsbeginn. Ihre Sprache ist wohltuend zeitlos und auffallend melodisch, ganz sanft bringt sie damit die Geschichte nach vorne. Wenn es um das Verrinnen der Zeit geht, um das Bedauern über Vergänglich- und Endlichkeit wird ihre Sprache fast schon elegisch. Manchmal merkt man den Sätzen allerdings an, dass sie – wie von der Autorin in der Danksagung selber angemerkt – wieder und wieder umgeschrieben wurden. Dann werden die Sätze hölzern und es  hat eindeutig die Lektorin über die phantasiebegabte Autorin gesiegt. Etwas mehr “schreiben aus dem Bauch heraus” hätte dem Erzählfluß sicher nicht geschadet. So geht Empathie und Emotionalität – eigentlich Kernbegabungen der Autorin – gelegentlich zu Gunsten der Präzision verloren.  

Dennoch – ein Jahr voller Wunder ist ein Buch, welches man schon nach dem sehr kurzen, aber eindringlichen ersten Kapitel kaum mehr aus der Hand legen mag. Zumal in Zeiten, in denen einem die Klima- und sonstige Katastrophen beinahe stündlich um die Ohren gehauen wurden. Auch Julia und ihre Eltern sind es als Kalifornier gewohnt, mit den Verschiebungen der Natur und der Erde zu leben, doch mit der Verlangsamung haben auch sie nicht gerechnet. Mühsam navigieren Julia und ihre Familie sich durch völlig veränderte Landschaften, völlig veränderte Tag-und Nacht-Rhythmen. “Während die Erde sich immer langsamer dreht, müssen die Menschen sich immer schneller anpassen.” Der Konflikt zwischen den Echtzeitlern und den Uhrenzeitlern ist unvermeidlich und im Übertragenen der Konflikt zwischen dem Natürlichen und dem von Menschen gemachten.

Phantasievoll, aber mit einem tiefen Verständnis der Gegenwart ist ein Jahr voller Wunder eine zugleich originelle und provozierende Geschichte, ob ihrer Plausibilität zudem erschreckend. Wird es so sein? Wird all das, worüber wir uns derzeit Sorgen machen, irgendwann völlig belanglos ob der viel größeren Katastrophe, die unserer harrt? Zum Ende hin komprimiert Karen Thompson Walker die Zeit und die Geschehnisse, doch das tut dem lange nachwirkenden Ende keinen Abbruch. Denn – Manchmal benötigen die traurigsten Geschichten die wenigsten Worte Es ist immer mutig, wenn Genres wild durcheinander gewürfelt werden, in der Regel kommt dabei ein guter Wurf heraus. So auch hier – ein Jahr voller Wunder ist nicht nur aber auch eine großartige Liebeserklärung an die Welt, wie wir sie kennen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by btb München

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