Boheme vs. Dekadenz
Der zweite Roman von Anna Katharina Fröhlich mit dem kryptischen Titel «Kream Korner» überrascht in vielerlei Hinsicht, der schmale Band verweigert sich als ein literarisches Capriccio beharrlich allen narrativen Konventionen. Einem Triptychon ähnlich steht im Zentrum der Geschichte ein unwirtliches Landgut in der Provence, dem zwei in die bunte Exotik Indiens führende, äußere Romanteile als Hommage an eine erträumte Gegenwelt beigefügt sind, wie sie konträrer nicht sein könnte. Da muss doch Absicht hinter stecken, denkt man sich beim Lesen, was will die Autorin denn damit sagen?
Die seit ihrem siebten Lebensjahr verwaiste Ich-Erzählerin wurde von Onkel und Tante in Südfrankreich liebevoll großgezogen, nach einem abgebrochenen Theologie-Studium in Paris kehrte sie desillusioniert in die ländliche Abgeschiedenheit zurück. Ihr asketisches Leben in dem feuchten, kalten, «beharrlich verfallenden Anwesen» ist durch die gartennärrische Tante vorgezeichnet. Neben vielerlei gehaltenen Tieren bewirtschaftet sie liebevoll einen geradezu archaisch anmutenden Garten, für dessen botanische Geheimnisse und Wunder sie auch die Nichte zu begeistern versteht. Als der äußerst belesene Onkel stirbt, studieren die eigenbrötlerischen Frauen aufmerksam die Heiratsanzeigen, aber welcher Mann könnte denn ernsthaft ihr ebenso kontemplatives wie – auf ernährungsbezogene Autarkie ausgerichtetes -arbeitsreiches Landleben teilen? In diesem zwischen Garten und Bibliothek changierenden, völlig zurückgezogenen Alltagsleben werden die alljährlichen Reisen zu einem befreundeten, unermesslich reichen Sikh-Clan in Indien zur hochwillkommenen Flucht aus der selbst auferlegten Askese.
Vorangestellt ist diesem europäischen Mittelteil die Schilderung eines solchen Besuchs auf dem Subkontinent, bei dem die namenlose Erzählerin, die sich selbst als «intellektuelle Erotomanin» bezeichnet, erfolglos versucht, den ältesten Sohn der indischen Familie als Ehemann für sich zu gewinnen. Das Leben in Lucknow ist orientalisch bunt, es wimmelt von dienstbaren Geistern in diesem prunkvollen Palast, dessen apathische Bewohner, denen sie «Readers Digest-Dummheit» bescheinigt, mit «nilpferdhafter Grazie» träge, faul und völlig antriebslos vor sich hindämmern, während im wüsten Getümmel außerhalb der Gartenmauern ein unvorstellbares Elend herrscht. Ein Jahr später sind sie, im letzten Teil des Romans, als Gäste zur Hochzeit dieses Sohnes erneut eingeladen. Der geht, familiären Traditionen folgend, eine von den Eltern arrangierte Ehe ein mit einer – wie die Erzählerin hämisch feststellt – grotesk unattraktiven Frau. Hier wiederholt sich nun wieder, frei von jedwedem Ressentiment, auch die ausufernde Schilderung der dekadenten, elegischen Oberschicht im Kontrast zur elendigen Bevölkerung, die sich bettelnd auf den vermüllten Strassen der Millionenstadt herumtummelt. Besonderen Eindruck aber macht ein fröhlicher Rikschafahrer auf sie, er «lachte die Pferde und Kühe an, lachte die Süßspeisen hinter den gläsernen Vitrinen, lachte die Krähen auf den Müllhaufen an, lachte in das Gold und Silber, das allenthalben in Stoffe, in Süßspeisen gemischt ist, Tempel, Ohrlöcher, Fußknöchel, Zöpfe, Affenschaukeln, Pferderückendecken schmückt».
Der nahezu handlungslose Roman lebt von solcherart detailversessenem Erzählfuror, dessen Markenzeichen geradezu diese narrative Reihenbildung ist. In ihrer adjektiv-gesättigten, eigensinnigen Diktion schwärmt Anna Katharina Fröhlich auf humoristische Weise von ihrem östlichen Sehnsuchtsort, als Apologie des gelungenen Lebens gleichsam, als Triumph der Sprache über die Zumutungen des Erdendaseins. Eine letzte Zumutung ist dann auf der Rückreise ein Imbiss mit dem Namen «Kream Korner», provisorisch auf dem ungesicherten Dach eines maroden Hochhauses in Kalkutta eingerichtet. Dort sagt am Ende die Tante völlig resigniert: «… wir machen unser Glück in Indien nicht. Falls du jemals ein Buch schreiben solltest, nenne es Kream Korner».
Fazit: mäßig
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