Wenn der junge Andrew Gage frühstückt, so läuft dies nach einem streng geordneten, komplizierten Ritual ab: Zunächst gibt es Rührei und Kaffee, dann folgen eine Tasse Kräutertee kombiniert mit Pfefferminzgelee auf Weizentoast; ein halbes Brötchen mit einer Scheibe Speck wird abgelöst von Orangensaft mit Honigpops und das Mahl endet schließlich mit einem Teller gesalzener Radieschen. Nun ist es keineswegs so, dass Andy ein unmäßiger Vielfraß wäre, nein, er leidet an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Hervorgerufen durch extremen Missbrauch in der Kindheit haben sich nach und nach immer wieder verschiedene Teile seiner Psyche verselbständigt und diese verschiedenen „Seelen“, männlich wie weiblich, alt und jung leben alle in seinem Körper. Andy hat sich damit arrangiert und die Situation einigermaßen im Griff, kommt gut zurecht, denn er hat im Kopf ein Haus errichtet, in dem alle Bewohner Platz und Zuflucht finden.
Allerdings gerät eines Tages dieses mühsam aufrecht erhaltene Gleichgewicht in Gefahr als er an seinem Arbeitsplatz – passenderweise ein Virtual Reality-Unternehmen – auf Penny Driver trifft, eine junge Frau, die unter derselben Störung leidet, dies aber noch nicht bewusst realisiert hat. Behutsam versucht Andy ihr zu helfen, die Erfahrungen zu verarbeiten und sie zu überzeugen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dummerweise ist er selbst aber auch noch mit einer unglücklichen Liebe belastet, und so sind die beiden von den auf sie einstürzenden Ereignissen schnell überfordert. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu Andys Heimatort, um die die dunlen Geheimnisse seiner Kindheitstraumata aufzuspüren. Die Reise treten sie jedoch nicht alleine an, denn im Gepäck führen sie eine ganze Reihe unberechenbarer Seelenbegleiter mit sich, von denen manche nicht ganz ungefährlich sind.
Selbst auf die Gefahr hin, die Leser hier zu langweilen; ich muss mich wiederholen und erneut ein Werk von Matt Ruff preisen. „Ich und die anderen“ unterscheidet sich gänzlich von den beiden bisherigen Büchern, ist aber nicht minder faszinierend. Der Autor führt uns mit großem Geschick in die Welt der Multiplen ein, er lässt uns staunen und er tut das einfühlsam und verständnisvoll, dennoch nicht ohne Humor. Es gelingt ihm zum Beispiel wunderbar, den realen Schrecken der Protagonistin zu schildern, wenn sie morgens in einem fremden Bett erwacht, ohne Erinnerung an die vergangenen Tage, dafür aber mit einer Liste ausgestattet, welche Dinge heute zu erledigen sind. Auch das brisante Thema Kindesmissbrauch packt Ruff mit der richtigen Mischung aus Emotionalität und Entschlossenheit an, er rührt an das Herz des Lesers, ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken. Ich finde, mehr kann man von einem guten Roman nicht verlangen und erteile den klaren Auftrag: Lesen!