Nichts stimmt, aber alles ist wahr
Der zweite Roman der als Banater Schwäbin in Rumänien geborenen Herta Müller unter dem kryptischen Titel «Herztier» ist 1994 erschienen, sieben Jahre nach der Ausreise der späteren Nobelpreisträgerin nach Deutschland. Sein Thema ist die Angst, und wovon sie berichtet ist laut eigener Definition «autofiktonal». Die mit Preisen überhäufte Schriftstellerin war in ihrer Heimat nämlich selbst Pressionen der allgegenwärtigen Securitate ausgesetzt, dem perfiden Geheimdienst des Diktators Ceausescu. Sie wolle mit ihren Texten ausdrücken, wie Diktaturen Menschen ihrer Würde beraubten, hat sie in einem Interview gesagt. Bei der Preisvergabe hatte das Nobelkomitee 2009 explizit auf die «Intensität der von ihr verfassten Literatur» hingewiesen. Auch wenn in den drei Romanen, die ich von ihr gelesen habe, mit der Thematik auch die Tonart wechselt, ist ihr sehr eigenständiger Erzählstil doch gleich geblieben. Ob er uns alle anspricht, ist zumindest fraglich. Das titelgebende «Herztier» nämlich, als Begriff dem rumänischen Neologismus «inimal» als Verschmelzung von inimă (Herz) und animal (Tier) entsprechend, prägt schließlich jeden Menschen auf ganz eigene Weise, auch den lesenden.
Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin berichtet zunächst von Lola, einer jungen Frau vom Lande, die in der Großstadt studiert und mit ihr und vier weiteren Mädchen zusammen ein als «Viereck» bezeichnetes Zimmer bewohnt. Lolas als Flucht in eine andere Welt gedachten, wahllosen sexuellen Kontakte mit irgendwelchen Männern enden so deprimierend, dass sie sich erhängt – und posthum aus Partei und Uni ausgeschlossen wird. Mit Edgar, Kurt und Georg bildet sich sodann ein vierblättriges Kleeblatt von Regimekritikern um die Protagonistin, sie schreiben heimlich Gedichte und treffen sich konspirativ in einem verlassenen Sommerhaus, in dem sie auch verbotene Bücher lesen. Immer wieder verschwinden Menschen auf unerklärliche Weise, und auch die Vier geraten ins Visier der Securitate. Ihre Briefe werden geöffnet, ihre Zimmer durchsucht, und wiederholt werden sie von Hauptmann Pjele verhört. Weil sie nach dem Studium schließlich nacheinander irgendwann aus ihren Arbeitsstellen entlassen werden, verlässt Georg als Erster sein Heimatland und reist nach Deutschland, begeht dort aber schon bald darauf Selbstmord, noch bevor die Erzählerin und Edgar ebenfalls deprimiert ausreisen. Als Teresa, ihre beste Freundin, sie im Westen besucht, wird schnell klar, dass sie nun ebenfalls für die Securitate arbeitet. Kurt, der als Letzter in Rumänien geblieben ist, erhängt sich am Ende, nachdem er dem Westen eine Liste von Fluchtopfern zugespielt hat.
«Bücher über schlimme Zeiten werden oft als Zeugnisse gelesen. Auch in meinen Büchern geht es notgedrungen um schlimme Zeiten, um das amputierte Leben in der Diktatur» hat Herta Müller in einem Essay geschrieben. Sie erzählt ihre Geschichte in einer hoch poetischen, äußerst assoziationsreichen, aber gleichzeitig auch sehr robust wirkenden Sprache, bei der sie insbesondere auf den Rhythmus achte, ihre Sätze also zur Kontrolle selbst laut lese. Und zu ihrem Sprachstil merkt sie an: «Ich mag keine abstrakten Begriffe in meinen Texten. Das Wort Diktatur zum Beispiel würde ich nie schreiben».
Es sind die Leerstellen in ihrer fragmentierten Prosa, der oft fehlende logische und semantische Zusammenhang, das unstrukturierte Geflecht der heraufbeschworenen, sich allzu oft widersprechenden oder sinnlos scheinenden Assoziationen, ihre eigensinnigen Sprachbilder also, die das Lesen dieses Romans ziemlich schwierig machen. «Nichts stimmt, aber alles ist wahr» hat Herta Müller zu ihrer poetologischen Arbeitsweise angemerkt. Was ich so interpretiere, dass man sich als ihr Leser aus dem Wahren selbst das Stimmige konstruieren soll, sich also die eigene Wirklichkeit erschaffen muss mit ganz individuellen Bedeutungen. Das mag für manchen Leser erfreulich sein, war es für mich allerdings ganz und gar nicht!
Fazit: mäßig
Meine Website: http://ortaia.de
Ich bewundere jeden, der es schafft, sich durch Herta Müllers Elaborate zu arbeiten.