Sterben als Therapie
Schon zum dritten Mal hat Thomas Melle mit «Haus zur Sonne» einen Roman geschrieben, der sich mit psychischen Krankheiten auseinander setzt. Und zum dritten Mal ist auch ein Roman von ihm auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Schon in wenigen Tagen wird sich klären, ob sein Roman diesmal vielleicht sogar als Sieger hervorgeht. Wir haben es hier mit einer autofiktionalen Dystopie zu tun, deren Thematik eine psychische Erkrankung ist, unter der auch der Autor selbst schon seit langem leidet. Er ist manisch-depressiv, eine bipolare Störung also. Dieses Buch ist sein erneuter Versuch, sich schreibend damit auseinander zu setzen.
Das titelgebende «Haus zur Sonne» ist für den Ich-Erzähler als Alter Ego des Autors die vielleicht letzte Möglichkeit, endlich aus dem Teufelskreis seiner Erkrankung heraus zu finden. Zufällig ist er auf eine Broschüre dieses Sanatoriums gestoßen, das staatlich finanziert Patienten aufnimmt, die bereits mehrmals vergebens versucht haben, Suizid zu begehen. In einem schriftlichen Vertrag müssen sich alle Patienten dazu verpflichten, nach Absolvierung der psychiatrischen Behandlung dann auch tatsächlich Selbstmord zu begehen. Wobei sie allerdings professionelle Hilfe erhalten würden, ein an den «Faust» erinnernder, mephistophelischer Pakt also. Wie auch der Ich-Erzähler schrecken nämlich viele Suizidwillige in letzter Sekunde doch noch davor zurück und gelangen so in eine fatale Endlosschleife. In den Wochen vor dem Suizid durchläuft unser Patient ein Programm, bei der ihm mittels Medikamenten und anderen Methoden im Traumzustand alle seine Wünsche erfüllt werden, – wenn er denn welche hat. Denn, wie auch der Ich-Erzähler haben viele Patienten gar keine mehr, ihr einziger Wunsch ist, endlich aus dem Leben zu scheiden. Der Protagonist im Roman wünscht sich zum Beispiel, Teilnehmer einer Gruppensex-Orgie zu sein oder als Forscher mit seinem Medikament den Krebs besiegt zu haben, – und er erlebt das halluzinatorisch dann auch. Andere seiner Wünsche bleiben jedoch völlig abstrakt oder sind nur sehr vage umrissen.
Es sind große Fragen des Menschseins, mit denen sich Thomas Melle hier erneut qualvoll authentisch beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem um Lebenswille und Selbstbestimmung, denen bei den betroffenen Personen übermächtig die fatale Fremdbestimmung durch ihre Psychosen entgegensteht. Thomas Melles Alter Ego im Roman hat sich schreibend mit dem heftig umstrittenen Nobelpreis für Peter Handke beschäftigt und in einem Essay Twitter als eines der fragwürdigen sozialen Medien unter die Lupe genommen, ohne das diese kreative Beschäftigung seinen Leidensdruck auch nur im geringsten hat mindern können. In endlosen Gesprächen mit Betreuern und anderen Patienten werden alle Aspekte der Erkrankung und ihre vielfältigsten Auswirkungen im Leben geschildert, was sich beim Lesen mit der Zeit aber zu einer immer quälender werdenden Litanei auswächst. Letztendlich weist all das philosophisch auf einen latenten Nihilismus hin, dem man als Betroffener unwiderstehlich ausgeliefert bleibt. Immer nach dem Motto: ‹Das Leben ist sinnlos, also lass es uns beenden›!
Was im Kopf eines psychisch kranken Menschen passiert, das kann literarisch durch Vermischen von Authentischem und Fiktivem nachgebildet werden, so der Autor. Literatur sein für ihn Therapie: «Das Schreiben hat mich in irre Räume zurückgeführt, die mir bekannt waren, die ich aber mit einem Schutzanzug betreten habe: dem Erzählmodus», hat er dazu erklärt. In vielen Rückblicken auf sein Leben werden wir mit der Vorgeschichte seiner Erkrankung konfrontiert, die er schon in den zwei anderen Romanen der «Trilogie des Wahnsinns» thematisiert hat. Obwohl es dem Autor stilistisch hervorragend gelungen ist, sein differenziert betrachtetes, äußerst schwieriges Thema dem Leser anschaulich zu vermitteln, stören die ständigen Wiederholungen des Erzählten bei der Lektüre mit der Zeit denn doch erheblich. Die dystopisch anmutende Frage, ob man das Sterben als Therapie bezeichnen kann, bleibt als satirisch letztendlich denn auch offen. Kurz gesagt: Eine extreme Lektüre!
Fazit: lesenswert
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