Thematisch überfrachtet
Der vielseitige, produktive Schriftsteller Dietmar Dath lässt auch in seinem neuen Roman «Gentzen oder betrunken aufräumen» keine formalen Schranken für das Denken gelten. Die inhaltliche Themenpalette des linken Querdenkers, der die Abschaffung des Kapitalismus als Ziel formuliert hat, reicht über Wissenschafts-Theorie, Politik und Ökonomie bis zu Science-Fiction und Fantasy. Mit der Bezeichnung «Kalkülroman» weist er auf den titelgebenden Mathematiker hin, dessen Gentzentypkalküle ein formales System darstellen, bei dem sich in der Logik aus vorgegebenen Aussagen weitere Aussagen ergeben. Das logische Denken also steht im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen, anspruchsvollen Romans, der an einer Textstelle dann auch erklärt: «Denken heißt: Betrunken aufräumen». Seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis hat denn auch einiges Erstaunen ausgelöst.
Unter dem Titel «Schmerz und Programm» beginnt das erste der 140 kurzen Kapitel in einem Gefängnis, wo Gerhard Gentzen im August 1945 in Prag verhungert. Die dabei ablaufenden medizinischen Prozesse werden minutiös geschildert und weisen schon gleich am Anfang auf eine schwierige Lektüre hin. Die Idee zu dem Buch kam dem Autor, der als nebulöse Erzählinstanz im Roman auch als Figur fungiert, bei einer Gedenk-Veranstaltung für den Mathematiker Kurt Gödel im ZKM Karlsruhe. Beide, Gentzen und Gödel, hätten wichtige Vorarbeiten für die darauf basierenden Maschinen geleistet, denen wir in einem «sehr grundsätzlichen Sinn eigentlich nicht vertrauen» dürften, auch weil sie «Meinungen machen und sie verbreiten», lässt Dath seine Leser wissen. «An einer davon schreibe ich, was du jetzt liest». Er schreibe Texte, «die nicht davon handeln, wie es ist, sondern davon, wie es sein sollte, wie es hoffentlich nicht sein wird oder wie es ganz neutral sein könnte. Und das sind nun mal spekulative oder phantastische Texte».
Dieser zeitlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließende Gesellschaftsroman widmet sich besonders dem Computer mit seinen komplizierten Algorithmen. Dessen scheinbar ewig wachsende Rechenleistung stelle quasi die Grundlage unseres modernen Lebens dar. Aber es seien eben nicht nur sinnvolle und nützliche Beiträge, die er leiste. In den sozialen Netzwerken zum Beispiel generiere er eine «Zerstörung der Vernunft», die sich dort ungehindert in Kaufrausch, Genderstreit oder Rassismus artikuliere und wahre Probleme wie Klimakatastrophe oder Datensammelwut negiere. In verschiedenen Handlungs-Strängen agiert ein bunt gemischtes Figuren-Ensemble, zu dem eine Aktivisten-Gruppe gehört, die dem vergessenen Logiker nachforscht. Sie besteht aus Dietmar, der an einem Roman über ihn schreibt, sowie Laura und Jan. In einer vorangestellten, mit «Wer hier lebt» betitelten Aufstellung finden sich Figuren mit seltsamen Zuschreibungen wie «Sohn verarschter Eltern» oder «Verdächtige Nichtpräsenz» und auch bekannte wie Jeff Bezos, Geldheini oder Frank Schirrmacher, Mitherausgeber einer Zeitung oder auch Clemens J. Setz, Souffleur. Letzterer steht wie der Autor selbst für den Mut zu literarischer Eigenwilligkeit, die aus einer Nerd-Attitüde heraus den Leser auf diversen Meta-Ebenen vor den Kopf stößt mit einer Sturzflut abstruser Ideen und verklausulierter Verweise.
Man stößt auch auf allerlei amüsante Szenen, so wenn beispielsweise die Titelfigur mit Lady Gaga in einem Café zusammentrifft und über Primzahlen diskutiert. Andererseits öffnet der theorieversessene Autor einen Gedankenraum, zu dem er schreibt: «Es gibt Wahrheiten, die sind so eisig, dass der Verstand an ihnen zerreißt wie biologisches Gewebe, das einen allzu kühlen Stoff berührt: eine extrem schnelle Nekrose». Leider ist dieser dickleibige Roman thematisch total überfrachtet, er verwirrt zudem durch seine übergangslose Verschmelzung des Emotionalen mit dem Wissenschaftlichen. Ihn zu lesen setzt beim Leser die unbedingte Bereitschaft voraus, sich mit hochkomplizierten Theorien auseinander zu setzen.
Fazit: mäßig
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