EINE ETWAS ANDERE REZENSION
Da lag es nun auf meinem Schreibtisch auf einem Stapel anderer Bücher. Wir hatten uns wieder einmal aufgerafft und versucht, unsere Bibliothek zu verschlanken. Viele Bücher konnten schon gar nicht mehr in die Regale eingeordnet werden und lagen, sofern es der Platz zuließ, oben quer über den anderen. Immer wieder nahmen wir uns ein, zwei Fächer vor, entnahmen die Bücher, auch aus der zweiten Reihe, saugten den Staub ab und sonderten die Exemplare aus, von denen wir meinten, sie entbehren zu können. Beim Buchstaben S angelangt hatten wir die früher noch nicht aussortierten Werke von Solschenizyn in der Hand. Der Archipel Gulag musste schon beim letzten Mal weichen und dieses Mal der Rest. So lag das dünne Büchlein „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ oben auf.
Als ich am Tag darauf wieder an dem Stapel vorbeikam, nahm ich es in die Hand, schlug es auf und las den Klappentext. Ich dachte mir, eigentlich kannst du das Buch nicht weggeben. Vielmehr sollte ich es vielleicht noch einmal lesen. Nicht weil Alexander Solschenizyn Literaturnobelpreisträger war, sondern aus einem ganz anderen Grund. Ich erinnerte mich, dass mein Großvater Walter von 1944 bis 1948 auch in verschiedenen russischen Gefangenenlagern interniert war, die alle im mittleren Ural auf der europäischen Seite nahe der Stadt Nischni Tagil lagen. Während man nicht genau weiß, wo sich Iwans Lager befand, sehr wahrscheinlich in Sibirien, ist aber bekannt, dass in den Lagern in Nischni Tagil auch sogenannte „Spione“ inhaftiert waren. Das waren Soldaten wie Iwan Denissowitsch, die sich im 2. Weltkrieg aus der deutschen Kriegsgefangenschaft befreien konnten und nach Russland zurückgekommen waren. Sie wurden sofort gefangen genommen und nach Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches als Spione zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt.
Das Buch also wirklich noch einmal lesen? Um vielleicht mehr darüber zu erfahren, wie die Lebensbedingungen meines Großvaters damals gewesen sein könnten? Ist das für mich wirklich ratsam, bei meinem emotionalen Bezug zu diesem Thema? Um es gleich zu sagen: Es war eine erstaunlich ergiebige Lektüre. Denn das Hauptanliegen dieses Buches ist meiner Meinung nach nicht etwa die schrecklichen Lebensumstände im Lager zu beschreiben, obwohl sie auch nicht zu kurz kommen. Im Wesentlichen wird thematisiert, wie es möglich ist, unter diesen schwierigen Gegebenheiten nicht nur zu überleben, sondern auch einen positiven Lebensgeist zu entwickeln.
Der Maurer Iwan Denissowitsch, oder Schuchow, wie er auch genannt wird, legte seine Überlebensstrategie sehr langfristig an. So steht er jeden Morgen mit dem Wecken auf, um die eineinhalb Stunden frei verfügbare Zeit bis zum Ausrücken zum Arbeitseinsatz optimal zu nutzen. Er suchte jede Gelegenheit um sich etwas zu verdienen: „Man kann diesem oder jenem mit einem Stofffetzen einen Flicken auf die Fäustlinge nähen; einem wohlhabenden Brigadeangehörigen die trockenen Stiefel direkt vor die Pritsche reichen, damit dieser nicht barfuß herumlaufen und seine Stiefel aus dem Haufen heraussuchen muss“. So verdiente er sich da und dort einen Rubel, obwohl Geld im Lager offiziell verboten war. Oder er versteckte seine gestohlene Mörtelkelle jeden Abend nach der Schicht, um sie am nächsten Morgen wieder verwenden zu können. Denn es war eine gute Kelle, mit der er schnell arbeiten konnte und somit beim Brigadier gut angesehen war.
Weil er wusste, dass der Brigadier, der Leiter seiner 104. Brigade, auch ein Häftling, in diesen Tagen ein Paket erwartete, fragte er ihn, ob er sich für ihn am Abend in der Kälte bei der Ausgabe anstellen solle, in der Hoffnung, vom Inhalt etwas abzubekommen. Vielleicht ein Stück Speck oder einige Zigaretten. Auf diese Weise hat er schon fast zehn Jahre überlebt.
Der Tagesablauf mit dem harten Arbeitseinsatz als Maurer in eisiger Kälte ist durchdrungen von Schikanen, Ungerechtigkeiten und Ängsten, deren Ursachen aber sehr nüchtern, nicht emotional aufgeladen beschrieben werden und deshalb ihren innewohnenden Schrecken etwas verlieren.
Ein lesenswertes Buch, das dem Leser vermitteln will, dass man selbst unter schwierigsten Bedingungen eine positive Haltung bewahren kann, wie die letzten Sätze des Buches eindrucksvoll vermitteln sollen: „Der Tag war vergangen, durch nichts getrübt, nahezu glücklich. Solcher Tage waren es in seiner Haftzeit vom Wecken bis zum Zapfenstreich dreitausendsechshundertdreiundfünfzig.“
Um es mit Alexander Twardowskis Worten zu sagen, der „Ein Leben im Tag des Iwan Denissowitsch“ 1962 als erstes in der Moskauer Literaturzeitschrift „Nowy Mir“ (Neue Welt) veröffentlichte: „… Es ist auch ein Kunstwerk, und gerade kraft der künstlerischen Beleuchtung dieses aus dem Leben gegriffenen Stoffes ist es ein Dokument von besonderem Wert, ein Dokument für die Kunst, die man aufgrund dieses ‚spezifischen‘ Materials bisher kaum für möglich hielt …“