Seelisches Chaos
Die in Baku geborene, jüdische Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die 1996 als Zwölfjährige in Folge des Berg-Karabach-Konflikts mit den Eltern nach Deutschland emigrierte, verarbeitet in ihrem 2012 erschienenen Debütroman mit dem ironisch gemeinten Titel «Der Russe ist einer, der Birken liebt» eigene Lebenserfahrungen. Ihre autobiografisch inspirierte Protagonistin leidet nicht nur unter den Traumata der ethnischen Kämpfe in dieser krisengeschüttelten Kaukasus-Region, sie ist zudem von den latenten Problemen der Migranten in Deutschland betroffen und letztendlich auch noch von der Dauerkrise vieler multikultureller Gesellschaften, hier am abschreckenden Beispiel Israels.
Maria Kogan aus Aserbaidschan hat nach anfänglichen sprachlichen Problemen in der deutschen Schule ihr besonderes Talent für Fremdsprachen entdeckt und sich für ein Dolmetscher-Studium entschieden. Die hochbegabte Mascha, wie ihre Freunde sie nennen, erhält diverse Auslandsstipendien, und ehrgeizig wie sie ist strebt sie mit ihrem exzellenten Studienabschluss eine Anstellung bei der UNO an, wo ihr eine glanzvolle Karriere winkt. Die emanzipierte junge Frau wohnt mit ihrem deutschen Freund Elias in dessen Wohnung in Frankfurt, – es ist für Beide die große Liebe. Als er sich bei einem Fußballspiel das Bein bricht, entwickelt sich aus dieser Verletzung eine ernsthafte Erkrankung, bis Elias schließlich qualvoll an einer Sepsis stirbt. Verzweifelt flieht Mascha daraufhin nach Israel und nimmt dort eine deutlich unter ihrer Qualifikation liegende Stellung bei einer NGO an.
Nach dieser Zäsur, mit der sie ihre schwere emotionale Krise zu überwinden hofft, holt sie ihre Vergangenheit in voller Härte wieder ein. Die Pogrome in Baku, die sie als Kind miterleben musste, haben bisher tief verdrängte Traumata in ihr Bewusstsein zurückgerufen, und auch ihre jüdische Herkunft wird in Israel mit seinen unversöhnlichen ethnischen und religiösen Gegensätzen plötzlich zu einem handfesten Problem für sie. Ihre verzweifelte Identitätssuche erweist sich für die entwurzelte Frau als äußerst schwierig. Sie ist nicht mehr bindungsfähig, nach einer kurzen Affäre mit einem palästinensischen Soldaten kann sie auch zu ihrer politisch engagierten, lesbischen Freundin keine dauerhafte Beziehung mehr aufbauen. Der tote Elias beherrscht ihr ganzes Denken, sie macht sich sogar Vorwürfe, ihn nicht aufmerksamer gepflegt und die gesundheitliche Krise nicht rechtzeitig bemerkt zu haben. Von solchen Selbstzweifeln geplagt zeigen sich bei ihr schließlich physische Symptome, völlig appetitlos magert sie ab, wird von Beruhigungstabletten abhängig und erleidet schließlich einsam und hilflos einen Nervenzusammenbruch.
Es ist nicht nur der alltägliche Wahnsinn des von Gewalt beherrschten Staates Israel, dieser ewige Tanz auf dem Vulkan, mit dem die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans an ihrem vermeintlichen Zufluchtsort auf Schritt und Tritt konfrontiert wird. Olga Grjasnowa berichtet mit scharfem Blick für Details auch von den menschlichen Schwächen ihrer verschiedenen Figuren. Ihre Beschreibungen der absurd scheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse an beiden Handlungsorten, – in Deutschland mit seiner hysterischen Fremdenangst und in einem von religiösem Wahn beherrschten Israel -, werden temporeich und sprachlich schnörkellos in einem sachlichen, nüchternen Stil erzählt. In kurzen Sätzen werden hier, illusionslos und aus der Innensicht, kosmopolitische Multikulti-Fantasien als solche entlarvt. Denn hartnäckig erweist sich letztendlich immer die menschliche Natur mit ihren unausrottbaren Ressentiments als entschieden stärker. Es ist alles ein wenig zu dick aufgetragen, was sich in diesem Roman an Katastrophen ereignet, wobei die auch im Klappentext angedeutete, schreckliche Hasenszene ganz besonders hervorsticht. Narrativ eigensinnig wird hier von einer toughen jungen Frau berichtet, die in einer pseudo-globalen Welt an ihrem seelischen Chaos scheitert.
Fazit: lesenswert
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