Adele Sauerzopf erbt ein Schloss

Ein Roman, der ohne Mord, Sex, Tabubrüche auskommt, scheint heute gar nicht existieren zu dürfen. Im gegenwärtigen Überbietungsspektakel, der der Aufmerksamkeitsökonomie folgenden Literaturindustrie, fehlt der Platz für solch scheinbar „harmloses“ Werk. Allerdings geht der postmoderne Literaturapparat von falschen Prämissen aus: von der Moderne-Ideologie, die um jeden Preis das Gewalttätige, Hässliche und Destruktive darstellen will.

Einst, um von der Pseudoharmonie bürgerlicher Welten sich zu emanzipieren, heute einzig, um wahrgenommen zu werden. Ein Buch, das von grundsätzlich netten, gar liebenswerten Leuten sowie deren Erlebnissen erzählt, scheint überflüssig, ja abartig. Es zu lesen ergibt tatsächlich die paradoxe Situation, im sehr Bekannten die Exotik vorzufinden, die darin besteht, dass heutige Druckwerke nicht von einer Exkursion auf den Naschmarkt, den Farben und Düften dort, den fremden und einheimischen Geschmäckern und Gaumenfreuden berichten wollen oder dürfen. Oder von einer Busfahrt, auf der einige Passagiere ein Lied zu summen beginnen, und andere darin einstimmen bis sich fröhlicher Gesang erhebt. Undenkbar, solche Situationen zu beschreiben, will man sein kühles, sachliches, modernes Renommee nicht verspielen als Autor oder Autorin. Doch berührend zu lesen, da auch gut geschrieben und deshalb nachvollziehbar für den Rezensenten. „Normale“, entspannte Stimmungen, wie sie die überspannte Gegenwart mit ihrem Schielen auf den neuen Skandal, die nächste Besonderheit nicht kennt. Und gerade darin liegt die Ausnahme Robert Müllers Roman. Wir begleiten die Protagonistin, auf ihren Versuchen, das geerbte Schloss zu verkaufen, beim Pilze-Suchen im Wald, beim Himbeer-Brocken, beim Kochen – ja beim Marmelade-Einmachen. Recht einfache Dinge, die heute aber scheinbar keiner mehr kennt bzw. liest. Jedenfalls, wenn die Pilze nicht tödlich giftig wären und trotzdem gegessen würden, niemand interessieren.

Wir erfahren viel vom Landleben, aber die Großstadt wird nicht verteufelt – auch sie hat ihre Reize, ihre schönen Seiten, wenn man sie denn sehen will. Und die Protagonistin der Geschichte, Adele Sauerzopf, ist dazu fähig. Sie gehört einem Menschenschlag an, wie er heute sicher massenweise existiert. Eher liebenswürdig als verbittert, eher positiv als zynisch, eher ganz einfach und mit gutem Hausverstand gesegnet, als berechnend, manipulativ und egoistisch. In seiner Normalität erreicht der Roman den Charakter eines exotischen, fremdartigen, ferne Welten aufsuchenden Logbuchs; doch es ist die rund um uns existierende Wirklichkeit, wenn man diese nicht auf die Horrormeldungen im TV oder die Manipulationssicht der Werbung reduziert. Stellenweise mag man sich über eine gewisse Länge des Geschilderten mokieren, aber ich denke, das Buch ist als Dokument einer Welt zu lesen, inmitten der wir leben, die wir aber oft nicht wahrnehmen können in unserer verdrehten Weltsicht. Daher ist jede einzelne Passage zurecht geschrieben, festgehalten, notiert, zumal eine Generation nach uns vielleicht das Weltbild, das ihr eingeredet wurde: das des permanenten Kampfes, der Konkurrenz, des Erfolges, der Selbstdarstellung und gespielten Einzigartigkeit, für die Realität halten wird. Wer abgefeimt denkt, würde den Figuren des Buchs Naivität in ihrem Denken und Handeln vorhalten wollen, würde gar als Gattungsbegriff vielleicht den der Naiven Kunst aus dem Hut zaubern (oder gar den der Naiven Literatur – nicht zu verwechseln mit der Schiller’schen „Naiven Dichtung“ – zu kreieren). Zumindest zweites scheint nicht gänzlich abwegig. Aber gerade darin liegt eben die Kunst dieses Werks: sich bewusst für eine der heutigen Lebensanschauung konträre Sichtweise zu entscheiden, und diese konsequent durchzuspielen. Und dies bei amüsanten, berührenden auch spannenden Augenblicken. Was will Kunst mehr?

Manfred Stangl

Robert Müller: „Adele Sauerzopf erwirbt ein Schloss“, mymorawa 2o2o, 448 Seiten ISBN: 978-3-99110-064-5


Genre: Romane, Unterhaltung
Illustrated by myMorawa

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