Frauen als Outlaws
Die 16-jährige Abigail (Abby) Clearwater ist mit ihrem Leben unzufrieden: Als Mormonin aufgewachsen, soll sie nun als 5. Frau an einen alten Mann verschachert werden, um diesen den heiß ersehnten Sohn zu gebären. Also nutzt sie die Gelegenheit zu fliehen, als sich diese mit dem Outlaw Fynn Johnson ergibt. Abby ist von der Vorstellung fasziniert, ebenso frei, wild und ungebunden leben zu können wie die Outlaws und macht sich mit Beharrlichkeit und Selbstbewusstsein daran, von den Männern akzeptiert zu werden. Das gelingt ihr auch und sie ist nicht nur bei mehreren Überfällen dabei, sondern überfällt sogar allein eine Bank. Abby genießt ein paar Jahre lang die Freiheiten und den Geldsegen. Sie hat sich z.B. die Freiheit erkämpft, ein ähnliches Liebesleben wie die Männer zu führen, die wechselnde Liebschaften haben, ohne dass sich die Gesellschaft daran stört. Außerdem lernt sie ausgezeichnet schießen, reiten und die unwirtlichen Lebensbedingungen in den Verstecken auszuhalten. In ihren Freiheitsbestrebungen wird sie nicht nur von Fynn unterstützt, sondern auch von Butch Cassidy und Elzy Lay. Es bleibt aber bei der Unterstützung, denn Abby will sich selbst Respekt verschaffen. Auch das gelingt ihr, denn Elzy lehrt sie Verteidigungstechniken, die Abby ohne zu zögern anwendet, wenn ihr Gefahr droht. Aber irgendwann stellt sie fest, dass dieses Leben ohne Weiteres mit dem Tod enden kann und sie will auch nicht mehr die Unbequemlichkeiten der Verstecke auf sich nehmen. Eine Auszeit in San Franzisco verschafft ihr Klarheit über ihr weiteres Leben: Sie will sich niederlassen und heiraten.
F*ck you, Patriarchat!
Wer jetzt aber denkt, dass damit Abbys mühsam erkämpfte Freiheiten wieder für den Teufel sind (wie oft in der nicht nur historischen Literatur immer wieder propagiert), der irrt: Sie sucht sich ihren künftigen Gatten genau aus und geht offen mit ihrem Liebesleben und ihrer gesetzlosen Vergangenheit um. Außerdem steht sie finanziell auf eigenen Füßen, sodass sie ihren Gatten jederzeit verlassen kann.
Claudia Fischer stellt hier eine Frau vor, die ihr Leben unter schwierigsten Umständen in die eigenen Hände nimmt, und verweist dabei auf historische Frauenfiguren, denen ihre erfundene Abby nachempfunden ist. Abby und ihre historischen Vorbilder sind in jedem Fall Vorbilder, denn sie zeigen Frauen, wie frau sich aus allen toxischen Beschränkungen befreit, die das Patriarchat ihnen auferlegen will.
Was Abby hier auch zeigt, ist nach dem Buch „Die Wahrheit über Eva“ genau das, was Jäger*innen und Sammler*innen schon in der Steinzeit gelebt haben: Frauen waren angesehene Mitglieder der Gesellschaft, die ihr Liebesleben frei leben konnten (sich dabei aber ihre Männer – wie Abby auch – genau aussuchten) und sich damit sogar Vorteile sicherten. Denn da die Männer nicht genau wussten, wer der Vater der Kinder ist, versorgten mehrere Männer den Nachwuchs mit und ermöglichten damit weit bessere Überlebenschancen der Kinder – und sogar die Entwicklung des Gehirns über den Affenstatus hinaus zum Menschen! Die patriarchale Erfindung der lebenslangen Ehe hatte dagegen nur einen Zweck: Die Frau in ihrer Sexualität einzuschränken, so ihre Kraft zu schwächen und dem Mann sicherzustellen, dass der Nachwuchs nur von ihm allein ist – während der Mann selbst so viele Liebschaften haben konnte, wie er wollte. Aber selbst unter diesen Bedingungen suchten sich Frauen ihre Liebhaber aus und die so entstandenen Kinder waren dann eben Kuckuckskinder. Patriarchale Beschränkungen funktionieren nicht und haben nie wirklich funktioniert, denn Frauen suchen sich und finden immer ihre eigenen Wege (entweder offen oder heimlich), um die für sie toxischen Regeln zu umgehen. Abby rebelliert offen, muss dafür aber überstark sein, um das auch durchzusetzen. Das ist leider ein Preis, den auch heute noch viele Frauen zahlen müssen, um im Leben zu bestehen.
Die Gemeinschaft, die in dem Buch beschrieben wird, hat mich noch weiter an die Traditionen der Jäger*innen und Sammler*innen erinnert (denn auch Frauen jagten damals und waren in ihrem Alltag besser trainiert als weibliche Olympioniken): Die Gemeinschaft sichert das Überleben. Und da kann man(n) sich unnütze Beschränkungen der Frau schlicht nicht leisten, zumal Frauen ganzheitlich denken und das als Qualität für Führungspersönlichkeiten nachgewiesen ist. Auch Abby sorgt mit ihren Ideen und ihrer Vorgehensweise immer wieder für eine Verbesserung der Situation und sichert sogar an einigen Stellen das Überleben der Gruppe in brenzligen Situationen. Und ein weiteres Merkmal der Jäger*innen und Sammler*innen hat Abby als Überlebensstrategie (wieder-)entdeckt: die Vernetzung mit anderen Frauen. Frauennetzwerke sind extrem stark und effizient, deshalb wurden und werden sie vom Patriarchat immer wieder attackiert. Abby nutzt die wenigen Freundschaften mit Frauen, die sie in der Zeit des gesetzlosen Weges und später in der Ehe mit James hat, optimal, um Rückhalt zu gewinnen, wenn sie diesen braucht.
Ein paarmal bin ich über Ungereimtheiten gestoßen, die sich aber meist im Laufe der Lektüre geklärt haben. Ich habe mich z.B. gefragt, warum Abby bei all ihren Liebschaften keine Kinder bekommen hat. Fischer erklärt das mit mehreren Fehlgeburten, die plausibel klingen, wenn man bedenkt, welch hartes Leben Abby hat führen müssen. Warum Abby sich aber trotzdem in die Rolle der Hausfrau bei den Outlaws hat drängen lassen, obwohl sie sonst so durchsetzungsstark ist und alle Rollenklischees gesprengt hat, hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, den Männern den Kochtopf und den Putzlappen vor die Füße zu knallen und zu sagen: „Macht doch euren Scheiß allein – ach ja und wenn wir schon dabei sind: Ich will Eintopf zum Mittagessen, aber pronto!“
Wunderbar an dieser Reihe ist auch, dass in dem sonst so männer- und testosterondominierten Western-Genre eine Frau die Hauptrolle spielt. Frauen wurden in der Geschichtsschreibung immer wieder absichtlich ausradiert, was allmählich mehr und mehr ans Tageslicht kommt. Eine logische Konsequenz ist die Sichtbarmachung der Frau nicht nur in einer gendergerechten Sprache, sondern auch in der Geschichtsschreibung und darüber hinaus in der Belletristik. Ein weitere Sichtbarmachung gerade in angeblich männerdominierten Genres ist also sehr wünschenswert und Claudia Fischer trägt mit ihrer Reihe ihren Teil dazu bei.
Empfohlen!