Furor teutonicus
Es ist der unversöhnliche Blick auf die Welt, der das Œuvre von Reinhard Jirgl kennzeichnet und auch in seinem Roman «Abtrünnig» am Beispiel Berlin die ‹Zumutung des Menschseins› entlarvt. Die Befindlichkeiten seiner aus den Parallelwelten DDR und BRD stammenden Protagonisten spiegeln dabei in einem an Döblin erinnernden Großstadtroman die hasserfüllt beschriebene Gesellschaft der als unmenschlicher Moloch beschriebenen Metropole zu Beginn des dritten Jahrtausends. Subversiv im Sujet und poststrukturalistisch im Duktus, fordert dieser hoch artifizielle Roman ungewöhnlich viel Ausdauer und Geduld von seinen Lesern, bereichert sie andererseits aber auch mit der radikalen Sicht eines stilistischen äußerst eigenwilligen, ‹abtrünnigen› Einzelgängers der anspruchsvollen deutschen Gegenwarts-Literatur.
Unter dem skeptischen Diktum «homo homini lupus» erzählt Reinhard Jirgl von einem Bauernsohn, der dem dörflichen Leben den Rücken kehrt, als freier Journalist nach Hamburg geht, dort seine große Liebe Elisabeth findet, sie heiratet und nach zwölfjähriger Ehe geschieden wird. Daraufhin verfällt er dem Alkohol, verliebt sich in seine verheiratete Therapeutin Sophia und folgt ihr dann für einen neuen Anfang nach Berlin, wo er sich nun auch als Schriftsteller versucht. Die deutsche Hauptstadt ist zudem der Fluchtpunkt für einen ehemaligen NVA-Grenzer, der in Frankfurt an der Oder beim Bundesgrenzschutz arbeitet und der jungen Valentina aus der Ukraine selbstlos bei ihrer illegalen Einreise in den Westen hilft, – er will einfach nur Gutes tun. Beide Beziehungen aber scheitern kläglich, Sophia kehrt aus purem Opportunismus zu ihrem wohlhabenden Ehemann und ihrem italienischen Zweit-Lover zurück, Valentina verdingt sich Mata-Hari-artig als Callgirl und spioniert für mafiöse Auftraggeber reiche Geschäftsleute aus.
Der hier kurz skizzierte Plot, zeitlich Anfang des neuen Jahrtausends angesiedelt, zur Zeit der maßlosen Hauptstadt-Hysterie also, ist mit seinen ineinander verschränkten Handlungsfäden nur das lose Stützgerüst für ein breit angelegtes, soziologisches Panorama der Großstadt. Es ist eine sarkastische, oft auch ausgesprochen verächtliche und zynische Abrechnung mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und ökonomischen Bedingungen in der Metropole. Hartnäckig widersetzt sich diese überreich mit essayistischen Einschüben und wechselseitigen Verweisen angereicherte Prosa jedwedem Konsens, sie ist in weiten Teilen eine unversöhnliche, frustgeprägte Hasstirade auf eine zutiefst verachtete Gesellschaft und ihre sozialen Verwerfungen. Dabei steht stilistisch der innere Monolog im Vordergrund, ergänzt durch traumartige Sequenzen und tief gründende, psychologische Reflexionen. Sprachlich benutzt Reinhard Jirgl dazu seine ureigene Diktion aus lautmalerischer Schreibweise und einer sehr eigenwilligen Zeichensetzung, die allen Konventionen widerspricht, an die man sich aber überraschend schnell gewöhnt als Leser. Damit wird eine verblüffende, eigenständige narrative Wirkung erzeugt, die überaus eingängig der Alltagssprache entspringt und damit schon fast körperliche Nähe schafft. Der Erzähler dabei ist laut Jirgl ein «gleitendes Ich», mit häufigen perspektivischen Wechseln in mehreren Ebenen entwickelt sich so ein nicht immer leicht zu durchschauendes, narratives Geflecht.
Der Lebensekel, hervorgegangen aus dem totalen Scheitern, von dem allein in dieser wütenden, apokalyptischen Streitschrift die Rede ist, dieser hoffnungslose Blick in die Abgründe des Menschseins also, ist natürlich keine Lektüre für Genussleser. Deutlich zu leicht macht es sich der misanthropische Autor, wenn er die beiden Frauenfiguren als Sirenen darstellt, die mit ihren Verführungskünsten die Männer in den Abgrund locken. Gleichwohl aber ist es dem Büchnerpreisträger von 2010 gelungen, in seinem «Roman aus der nervösen Zeit» die Bestie Mensch mit seinem ‹Furor teutonicus› unerbittlich als wahres Monster zu enttarnen.
Fazit: lesenswert
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