Herscht 07769

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, – eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Baron Wenckheims Rückkehr

Zwiespältige Parabel

László Krasznahorkai, ein Meister der Apokalypse, gehört zu den bedeutendsten ungarischen Schriftstellern der Gegenwart. Sein jüngster Roman «Baron Wenckheims Rückkehr» bedeute eine Wende in seinem bisher «melancholischen und resignativen Werk», wie er im Interview erklärt hat, es sei sein erster humorvoller Roman. Der vor allem im englischen Sprachraum gefeierte Autor wurde 2015 mit dem dort wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet, die Jury des Man-Boocker-Preises bezeichnete ihn als «einen visionären Schriftsteller von außergewöhnlicher Intensität, dessen sprachlicher Ausdruck die Beschaffenheit der heutigen Existenz in Szenen einfängt, die besorgniserregend, befremdlich, erschreckend komisch und oft überwältigend schön sind». Das in der schwülstigen Laudatio als visionär Gelobte endet auch hier allerdings wieder in einer Apokalypse, der Weg dorthin ist jedoch urkomisch.

Der vor 46 Jahren aus Ungarn vertriebene Baron Béla Wenckheim hat sich in Südamerika durch seine Spielleidenschaft in den Ruin getrieben, er sitzt in Haft. Seine wohlhabende Familie holt den verwirrten, spindeldürren Mann nach Wien zurück und kleidet den völlig Verwahrlosten neu ein, ehe sie ihn mit dem Zug in seinen ungarischen Geburtsort Gyula weiterschickt, den der alte Mann vor seinem Tod unbedingt noch einmal sehen will. Boulevardpresse und Fernsehen bauschen diese Heimkehr medial derartig auf, dass die wildesten Gerüchte entstehen, angeblich würde der steinreiche Adelige seine Stadt finanziell äußerst großzügig unterstützen. Verwaltung und Einwohnerschaft malen sich eine glänzende Zukunft aus für die hoffnungslos heruntergekommene Stadt, manche Leute beginnen sogar schon, sich zu verschulden in Erwartung des Geldsegens, der da bald auf sie nieder regnen wird.

Mit seinem üppigen Ensemble wahrhaft wunderlicher Figuren zeichnet László Krasznahorkai das Panorama einer Provinzstadt im Ungarn von heute, die auf ihren Heilsbringer wartet. Da ist der unfähige Bürgermeister, der korrupte Polizeichef mit seiner aus zwei Dutzend Rockern bestehenden Motorrad-Bande, ein verwilderter Professor, der im Dornbusch-Ödland dahinvegetiert, Marika, die Jugendliebe des Barons, Dante Szolnoki, ein redegewandter Krimineller, der sich dem Baron als Sekretär andient, und viele skurrile Typen mehr. Der Autor beschreibt das alles in einer glanzvollen Sprache mit vielen parallelen Erzählsträngen und erschließt seinen Plot großenteils mit stimmigen Dialogen, oft aber auch als Bewusstseinsstrom oder innerer Dialog. Wobei seine kunstvoll konstruieren Sätze sich immer über mehrere Seiten hinweg erstrecken und die direkte Rede ohne Satzzeichen einbinden, «ungewöhnlich lang, weil ja auch unser Denken ein endloser stürmischer Prozess ist und keine Punkte kennt», hat er dazu angemerkt. Nach anfänglichen Problemen liest man sich aber doch schon bald ein in diese virtuos konstruierten Endlossätze, sei skeptischen Lesern versichert.

In seiner zeitgeschichtlichen Parabel über ein rückständiges, korruptes Ungarn, das ihm offensichtlich peinlich ist, hat László Krasznahorkai ein vernichtendes Urteil über seine Heimat gefällt, auch wenn er dies deutlich erkennbar satirisch überzeichnet, sich am Ende gar ins Surrealistische hineinsteigert. Unfähigkeit, Faulheit und grenzenlose Dummheit sind fürwahr nicht gerade schmeichelhafte Wesensmerkmale seiner Landsleute, auch wenn er recht wohlwollend über sie schreibt. Seine hanebüchene Story ist mit häufigen kontemplativen Einschüben angereichert und bietet gute Unterhaltung vor allem durch den köstlichen Humor, der das verrückte Geschehen permanent überlagert, nicht selten aber auch in Klamauk ausartet. Mehr als ein Wermutstropfen ist außerdem eine gewisse Langatmigkeit, manches ist erzählerisch einfach zu breit ausgewalzt in dem fast 500seitigen Roman, dessen apokalyptisches Ende mich ebenfalls nicht überzeugen konnte. Und so hinterlässt dieses stilistisch erstklassige Buch leider einen sehr zwiespältigen Eindruck.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main