Die andern sind das weite Meer. “The crack is were the light comes in.” Dieselbe Geschichte aus vier Perspektiven. Eine multiperspektivische Erzählinstanz, die aus verschiedenen Richtungen zeigt, wie es sich anfühlt, die Eltern zu verlieren: die Mutter an den Tod, den Vater an die Demenz. Die Familiengeschichte der Cramers ist so alltäglich wie normal, gleichzeitig aufrührerisch und emotional. Denn sie steht symptomatisch für viele andere.
Geschwisterrivalitäten und andere Eifersüchteleien
Mutter Maria stammte aus Mexiko, ist aber längst gestorben. Hans Cramer, Diplomat und “Familienoberhaupt”, wie es damals hieß, ertappte sie einst inflagranti, aber das ist längst Geschichte. Denn Hans leidet zunehmend an Demenz, ein Krankheitsbild, das harmlos anfängt und sich laufend immer mehr steigert. Bis zum Showdown. Oder kann sich doch etwas verbessern? Die drei Kinder, Luka, Elena und Tom sind um die 40 und haben längst ihre eigenen Leben und Familienkrisen, als “das Problem” mit ihrem Vater immer größer wird. Er soll nur mit Unterhosen bekleidet einen Pool in der Nachbarschaft gesucht haben, um schwimmen zu gehen, erzählt Loretta, die Nervensäge aus der Nachbarschaft. Dabei ist der Pool längst zugeschüttet. Aber in Hans Langzeitgedächtnis steht er noch an der genau derselben Stelle wie damals, als er noch jung war. Jeden Tag ging er dort schwimmen, obwohl er Freizeitkleidung eigentlich hasste.
Demenz und Verwahrlosung
Er war immer adrett in Anzügen gekleidet, aber jetzt war alles anders: “Es passierte in letzter Zeit häufiger, dass er so abdriftete, und wenn er dann auftauchte, musste er sich wieder neu orientieren. Mist, sein Gehirn war Mist!” Am schlimmsten an der Demenz ist es wohl, das selbst erkennen zu müssen, seine Gedanken waren wie Schneeflocken, schreibt die Autorin treffend. Seine drei Kinder stehen mitten im Leben, er am Ende. Auch sie haben berufliche und persönliche Probleme. Luka, sein Lieblingskind, ist Reporterin in der Ukraine und macht einen schrecklichen, folgenreichen Fehler. Elena steckt in einer Ehekrise und der einzige Sohn, Tom, der Psychotherapeut, ist mit einem Partner liiert, der schon einen fixen Partner hat. Zweite Wahl also, wie er bald schmerzlich feststellen muss. Ob ihm seine Ayahuasca-Experimente dabei helfen können?
Krise schärft Zusammenhalt
Julie von Kessel hat einen authentischen Roman geschrieben, der zeigt, was es heißt eine Familie zu sein. Denn trotz all ihrer eigenen Probleme finden die drei Geschwister am Ende zusammen, was formal auch dadurch gelöst wird, dass es keine namentlichen Kapitelüberschriften mehr gibt, sondern nur mehr eines: “Hans”. In der Pflege ihres Vaters finden die drei wieder zusammen und schaffen es, ihre persönlichen Befindlichkeiten unter das Wohl der Allgemeinheit zu stellen. Denn alle wollen, dass es ihrem Vater wieder besser geht und er wieder zurück ins Leben findet. Der verirrte Belugawal, der sich in der Seine bei Paris verirrte konnte zwar gerettet werden, aber am Ende hatte er kein schönes Schicksal. Er zieht sich wie eine Metapher durch “Die andern sind das weite Meer“, denn Hans fasziniert die Nachricht über sein Schicksal deswegen so stark, weil er fühlt, dass er selbst gestrandet ist. Das Ordnen der alten Familiendias gibt ihm den Halt, der ihm verloren ging.
Das Verschwinden von Hans
Doch dann verschwindet Hans aus dem Haus, ohne Brieftasche und Kleidung. Die drei Geschwister finden in der Suche nach ihm wieder zusammen und begreifen, dass das Einzelgängertum der Vergangenheit keinem von ihnen nützte. So finden sich auch Lösungen für die eigenen privaten Probleme, die sie haben, denn schließlich sind sie eine Familie. Den Satz “Die andern sind das weite Meer”, der Titel dieses einfühlsamen Romans, muss jede/r für sich selbst interpretieren. Will man sich darauf verlieren? Oder segeln? Oder surfen? Ein Fluß wie die Seine ist für einen Belugawal jedenfalls zu klein.”Für mich sind Familien spannend”, sagte die Autorin in einem Interview, “vielleicht wegen der Ansprüche, die alle aneinander stellen, und auch wegen der gemeinsamen Geschichte”. Oder wie es Leonhard Cohen eingangs sagte: da wo der Bruch, der Riss entsteht, kommt das Licht herein. Die Spreu trennt sich vom Weizen. Oder aber die Krise schärft den Zusammenhalt. Eine Krise ist eben immer noch eine Chance. Aber nicht alle nützen sie.
Julie von Kessel
Die andern sind das weite Meer
Roman
2024, Hardcover, 336 Seiten
ISBN 978-3-96161-197-3
Eisele Verlag
23,- € [D] │23,70 € [A]