Gestern war Heute

Vom Dilemma femininer Selbstverwirklichung

Der autobiografische Roman «Gestern war heute» mit dem Untertitel «Hundert Jahre Gegenwart» ist das bekannteste und erfolgreichste Buch der Schriftstellerin Ingeborg Drewitz. Ihr soziales Engagement steht auch hier wieder im Fokus, über drei Generationen hinweg gespiegelt am Schicksal einer Frau, deren Suche nach ihrer Identität an der Verlassenheit und Kontaktarmut der Mitmenschen scheitert, auch und vor allem in der engsten Familie. Die Autorin war Mitglied in den verschiedensten literarischen Verbänden, Jurymitglied in Klagenfurt, sie hat sich aber auch politisch zum Beispiel als Jurorin des 3. Russell-Tribunals in Frankfurt oder bei ‹amnesty international› engagiert.

Gabriele M. heißt die Protagonistin, über deren Leben – angefangen von der Geburt im Inflationsjahr 1923 bis hin zum Jahre 1978 – hier berichtet wird, wobei Rückblenden in die Familiengeschichte bis zum Deutsch-Französischen Krieg zurückreichen. Auch die Bismarckschen Sozialistengesetze und die dadurch ausgelösten Verfolgungen spielen eine Rolle, vor allem aber wird leitmotivisch immer wieder auf den Petersburger Blutsonntag zurückgeblendet als ein politisches Menetekel, das in ihre eigene Geschichte hineinwirkt. Ein Familienepos mithin, in dessen Mittelpunkt die physischen und psychischen Probleme weiblicher Emanzipation stehen unter dem äußeren Einfluss politischer Ereignisse. Dazu gehören natürlich der Erste Weltkrieg, die politisch instabile Weimarer Republik, der Albtraum der Nazidiktatur, die Teilung Deutschlands, der gescheiterte Aufstand in der DDR, schließlich Mauerbau und die Zeit der aufmüpfigen 68er-Bewegung in der Bundesrepublik. Die Väter in dieser Geschichte sind allesamt politisch schwache, ambivalente Figuren, die sich opportunistisch am liebsten aus allem raushalten, während die Frauen sich beherzter engagieren.

Die Suche der Heldin Gabriele nach Selbstverwirklichung, nach dem ‹Ich›, bleibt durch kriegsbedingte Arbeitsverpflichtung, Abbruch des Studiums wegen Schwangerschaft, Eheproblemen bis hin zur drohenden Scheidung, nachgeholtem Studienabschluss und beruflichen Querelen aber derart unerfüllt und starr gesellschaftlich vorgezeichnet, dass sie sich vom Alltagsstress völlig erschöpft und entmutigt mit Suizidgedanken trägt. Sie ist als freiberufliche Reporterin beim Hessischen Rundfunk sehr erfolgreich, fühlt sich aber eingeengt, fragt sich, wo sie selbst bei alledem bleibt, was denn nun ihr ‹Ich› ausmacht. Als ihre opponierende älteste Tochter geradezu brutal ausbricht aus allen tradierten gesellschaftlichen Konventionen, sich im linken politischen Spektrum betätigt, erkennt Gabriele widerwillig schließlich an, dass ihr lebenslang der Mut zu ebenso konsequenter Selbstverwirklichung gefehlt hat, dass ihre ledige Tochter ihr da um einen entscheidenden Schritt voraus ist. Demnach scheint es historisch also tatsächlich einen gewissen gesellschaftlichen Fortschritt zu geben. Die jüngere Tochter aber heiratet am Ende, ein Enkelkind wird geboren, wieder mal zeichnet sich da also ein unabänderlich scheinender familiärer Alltagstrott ab, – ein wahrlich pessimistischer Ausblick zum Thema Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Dieses grandiose Zeitdokument ist gekennzeichnet durch seine vielen verschiedenen, glaubhaft geschilderten Figuren, durch stimmige Dialoge und einen dem jeweiligen Zeitgeschehen gekonnt und einfühlsam angepassten Plot. Sprachlich überzeugt der aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Roman mit einer wohltuend unartifiziellen, präzise beschreibenden, zielgerichtet komprimierten Diktion, oft in Form des inneren Monologs. Das atmosphärisch dichte Bild, das er so erzeugt, bewirkt einen Lesesog, dem man gespannt folgt bis zur letzten Seite. Zu Recht also ist dies ein zeitloser Klassiker, der sich, angenehm lesbar und auf intellektuell hohem Niveau, mit dem aus femininer Sicht noch lange nicht geklärten sozialen Dilemma individueller Selbstverwirklichung auseinandersetzt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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