Lavinia

Überstrapazierte Emotionslosigkeit

Den Romantitel «Lavinia» hat Dagmar Leupold, wie sie im Interview erklärte, dem Eneas-Roman des mittelalterlichen Schriftstellers Heinrich von Veldeke entlehnt. In dessen Geschichte wird die Figur der Lavinia, deren Minne in Form eines Monologs erzählt ist, einerseits als bezaubernd und rein, andererseits aber als selbstsicher und trotzig dargestellt. «Mein Roman ist sozusagen Echo auf diesen Minnemonolog», hat die Autorin erklärt.

«Wer ergründen will, muss herab» lautet beziehungsreich der erste Satz. Als Sturz durch die Zeit angelegt, enthält der Roman den «Fall» nicht nur im Wortstamm sämtlicher, rückwärts gezählter Kapitelüberschriften, beginnend mit «Überfallen» im 25. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses und countdownartig endend bei «1. Wutanfall», sondern auch im Titelbild mit seinen senkrecht herab fallenden Buchstaben. Die solcherart Sprachspiele liebende Autorin benennt denn auch die Lebensstationen ihrer Heldin nicht mit Ortsnamen, sondern mit den Flüssen, an denen sie liegen. «Von der Lahn zum Neckar, vom Neckar zum Arno, vom Arno zum Hudson» heißt es da bei einem Resümee der Ich-Erzählerin. Das beherrschende Thema dieses Romans sind die Abgründe und Verluste im Leben von Lavinia, denen es sich zu widersetzen gilt, dargestellt als lawinenartiger – wenn mir dieses Wortspiel erlaubt ist – Rutsch durch die Zeit mit all den Spuren, die davon historisch zurückbleiben.

Gleich zu Beginn wird die Protagonistin zunächst aber erst mal von Besuchern um ihre preiswerte Sozialwohnung beneidet, mit traumhaftem «Blick über den Hudson im Westen und die Miss Liberty im Süden», sie sei ein Glückspilz, sagen alle. Dort im 25. Stock beginnt dann auch ihr Rückblick auf ein Leben, dessen berufliche Aspekte der Literatur-Wissenschaftlerin kaum Probleme bereitet haben, umso mehr aber die privaten. Dieser weit ausholende Prozess des Erinnerns schließt politische Ereignisse mit ein, die sich umso tiefer ins kollektive Gedächtnis einprägen, je stärker ihre Tragweite das Persönliche tangiert. Tiefwurzelnde Zeitgeschichte und allmählich formierte Lebensgeschichte verschmelzen hier quasi in einer Art körperlichem Prozess miteinander und bilden die Basis für den aufkeimenden und stetig anwachsenden Widerstandsgeist der Protagonistin. Als ein der Weiblichkeit gewidmeter Roman beschäftigt sich «Lavinia» mit den gefühlsmäßigen Zumutungen der ersten Liebe ebenso wie mit den folgenden, emotional bedeutungslos bleibenden, flüchtigen Liebschaften, aber natürlich auch mit der einen, der einzigen, großen Liebe. Die Pubertät der Heldin spielt sich in einem zeitbedingt prüden Umfeld ab, inmitten einer tendenziell frauenfeindlichen Gesellschaft, in der sie scheinbar unabwendbar Übergriffen der Männer ausgesetzt ist. Das setzt sich fort bis zum Schlusskapitel mit der Überschrift «Wutanfall», in dem es heißt: «Ihr Betatscher, ihr Zurauner, ihr Übergreifer. Ich suche euch heim». Die da bereits ältere Frau listet buchhalterartig in einem «Logbuch der Gewalt» all ihre Peiniger auf: den Pokneifer im Bus, den bösen ‹Onkel›, den übergriffigen Arzt, den ebenso übergriffigen Physiotherapeuten, die anzüglichen Kollegen, Chefs, Journalisten, den Busengrabscher und den geisteskranken Beinahe-Vergewaltiger in Syrakus. Als Belästigte ist sie in manche Fallen (sic!) immer wieder blindlings hinein getappt.

Erzählt wird dieser auch als Beitrag zur «Me Too»-Debatte anzusehende Roman äußerst distanziert in knappen Sätzen, in denen nicht alles ausbuchstabiert wird. Mit einem Übermaß an Andeutungen und einem permanenten Rückgriff auf das Assoziationsvermögen des Lesers, das auf gar manche schiefen Bilder trifft, wird die Lektüre ebenso erschwert wie durch die häufig eingeschobenen Minnesang-Verse aus dem 12ten Jahrhundert. Als Figur bleibt Lavinia zudem seelisch indifferent, sie verschwindet geradezu unter ihrem intellektuellen Habitus. An dieser überstrapazierten Emotionslosigkeit aber scheitert letztendlich der ganze Roman.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Edmond

leupold-2Eine Nabelschau

Ihrem 1992 erschienenen Debütroman «Edmond» hat die damals 37jährige Dagmar Leupold den Titelzusatz «Geschichte einer Sehnsucht» beigefügt, womit sie das Genre ihres Erstlings von vornherein definiert hat: es handelt sich um einen Liebesroman. Und wer die Vita der Autorin anschaut, dem drängen sich so manche Übereinstimmungen auf zwischen ihr und ihrer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin. Ob ihre Geschichte also autobiografisch ist oder doch fiktional, bleibt somit fraglich, – es ist aber auch ziemlich egal, wenn’s nur gut ist. Ist es das?

Wie eine äußere Klammer umgibt eine bevorstehende Geburt die viele Jahre zurückliegende innere Erzählung, ein Stilmittel der Autorin, das sie später in ihrem Roman «Unter der Hand» ganz ähnlich benutzt hat. «Mit jeder Stunde, die vergeht, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind in die Schlagzeilen gerät» lautet der erste Satz. Denn es ist der letzte Dezembertag des Jahres 1999, das Ungeborene könnte also medienwirksam als das erste Baby des Jahrtausends auf die Welt kommen. Ob es so war, bleibt ungewiss. Denn der Roman endet mit den Sätzen «Einundzwanzig Stunden nach der ersten Wehe kommt mein Sohn auf die Welt. Er gleicht niemandem». Die Frage nach dem Vater bleibt offen. «Viele Jahre nach unserer Liebesgeschichte (sie liegt jetzt neun Jahre zurück, und eigentlich hat er die Frau schon während unserer Geschichte kennengelernt) hat Edmond eine Frau geheiratet, deren Gefühlskompass intakt war».

Nun zur inneren Geschichte: Im Zug nach Paris lernt eine junge Schriftstellerin Edmond aus der Dominikanischen Republik kennen, einen muskulösen Sportlehrer, der in den USA studiert hat. Es ist Liebe auf den ersten Blick, schon am Gare de l’Est geben sie sich den ersten Kuss. Die fast ohne Dialoge erzählte Geschichte ist an sich belanglos, man liest sie nicht der Handlung wegen und begeht also auch keinen die Spannung zerstörenden Verrat, wenn man sie hier kurz skizziert. Die Beiden verbringen einige Wochen in Paris, gehen dann gemeinsam nach New York. Auf einer Party bei Edmonds Kollegin merkt sie, dass ihre Romanze dem Ende zugeht. Edmond überrascht sie zwar noch mit einer gemeinsamen Reise nach Jamaika, danach aber trennen sich ihre Wege endgültig.

«Jeder hat so seine Epiphanie; meine war der Buddha im Wald bei Worpswede». Leupold bindet diese Statue wie einen Schutzengel in ihre Geschichte ein, sie dient der Heldin, einer inneren Stimme gleich, als Kommentator und Souffleur. «Ohne Götzen keine Bücher und ohne Gespenster auch nicht» heißt es im Text, und genau hier liegt der Reiz dieser leichtfüßigen, wie schwebend erscheinenden Prosa. Weite Passagen der Geschichte nämlich sind dem Thema Schreiben im Allgemeinen gewidmet und der Entstehung dieses Romans im Besonderen. «Statt Bücher über Edmond zu schreiben könnte man selbstverständlich die deutsche Einheit oder Zwietracht zum Gegenstand wählen …» erklärt sie dem staunenden Leser, die ihr beim Schreiben quasi über die Schulter schauen darf. Wobei ihr Buch im Krankenhaus entsteht, wo sie wegen einer Komplikation die letzten Monate der Schwangerschaft verbringen muss, sie nutzt dort die Zeit zum Schreiben. Dass sie dabei über eine vergangene Liebschaft berichtet, muss nichts bedeuten, kann es aber. «Man schreibt aus denselben Gründen, aus denen man liest: aus Wissensdurst und Liebeshunger» heißt es einmal, und weiter: «Unordnung stiften, verlorenes Territorium zurückgewinnen: Blühender Sinn und ausschweifender Verstand – für all das gewährt das Papier Raum». Und was die Leser anbelangt, so stellt sie klar, «dass man jemand die Bücher ansieht, die er gelesen hat». Die Schriftstellerin hält also eine vergnügliche Nabelschau in diesem Roman, nicht mehr und nicht weniger. Liebe, Erleben, Erzählen, Lesen bilden hier eine literarische Funktionskette, formen «eine Liebesgeschichte, die im Sande verläuft», die aber auf eine intelligente und nachdenkliche Art erzählt wird, in der die Genese des Plots das eigentliche Ereignis ist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Unter der Hand

leupold-1Mensch, Dagmar

Mit einem Zitat aus «Tristram Shandy» von Laurence Sterne wird dieser moderne, aber auch melancholische Schelmenroman wunderbar stimmig eingeleitet. Und es wird auch gleich dramatisch: Minna liegt tot auf dem Bett, als ihr Nachbar sie findet, wie hindrapiert, an Dornröschen erinnernd. Neben ihr ein Manuskript, in Leder eingeschlagen. Er beginnt zu lesen … und taucht dann erst im letzten Kapitel wieder auf, er bildet quasi eine Klammer um das Ganze. Denn was wir da eigentlich lesen, so will es Dagmar Leupold, ist genau dieser nachgelassene Text, dessen Entstehung märchenhafte Züge trägt, ein von der Autorin kunstvoll eingesetztes Stilelement, auch wenn ihre Protagonisten der Jetztzeit entstammen und ein glücklicher Ausgang nicht recht passen würde dazu. Aber man wird doch noch träumen dürfen!

Während der Reha nach einem Zusammenbruch, der medizinisch unbenannt bleibt, trifft die an Melancholie leidende Minna, Single-Frau um die fünfzig, in der arkadischen Landschaft der Toskana auf Vico, einen mit dem Recycling von Abfall erfolgreichen, so gar nicht mafiosen Unternehmer, der ihr gleichwohl diskret dicke Geldumschläge zuschiebt, damit sie sich zu Hause schriftstellerisch betätigen kann, als Nachkur gewissermaßen. Ein eigenwilliges Mäzenatentum, der Italiener will nämlich sein reichlich vorhandenes Geld wenigstens zum Teil selbstlos einsetzen, um Freude zu stiften. Er hofft, dieses Glück möge sich dann auch weiter übertragen auf andere, und ihre Erfahrungen in diesem Prozess solle Minna aufschreiben. So beginnt eine turbulente Geschichte, mit viel Wortwitz ebenso zielstrebig wie kurzweilig und nachdenklich erzählt.

Kaum zurück in München, ihrer Wahlheimat, trifft Minna, die sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, auf Lotte, eine rüstige ältere Dame über achtzig, mit der sie schon bald eine liebevolle Freundschaft verbindet, ein unerhofftes Glück für die zurückgezogen lebende betagte Frau, die aus Schlesien stammt. Nach und nach erweitert sich Minnas dürftiges Beziehungsnetz, wir lernen ihren Liebhaber Franz kennen, dann zwei halbwüchsige Nachhilfeschüler und den ehemaligen Lehrer Heinrich, der sich als ihr Froschkönig erweist, wie aus dem grimmschen Märchen entsprungen, ihre wahre Liebe. Und ihr Glück wirkt in der Tat ansteckend, ihr kleiner Lebenskreis blüht auf, man findet fast familiär zueinander.

Die lakonischen Reflexionen einer erwachsenen Frau, die als Frühgeburt auf die Welt kam, ein Mängelexemplar nach eigenem Bekunden, zeigen die Ich-Erzählerin als gleichermaßen witzige wie scharfe Beobachterin des alltäglichen Wahnsinns um sie herum. Jeder bekommt da sein Fett ab in deren Gesellschaftskritik, ob das nun die treffsicher aufs Korn genommene Schickeria Münchens ist oder die wunderliche Fahrradgruppe in der Toskana. Der Schwung der Handlung flaut ganz zum Schluss hin leider etwas ab, es wird deutlich konventioneller erzählt, auch der Ausgang der Geschichte kann mich nicht wirklich überzeugen. Gleichwohl, alles was wir lesen in diesem Roman ist pointiert und geistreich formuliert, unterhaltsam, spannend, lebensklug, oft auch ironisch, manchmal gar zynisch. Die Figuren wirken allesamt sympathisch, trotz aller Melancholie gibt es komische Situationen und immer wieder amüsante Dialoge zwischen ihnen. Minna wirkt erstaunlich stark mittendrin, burschikos wie sie ist, es macht einfach Spaß, ihr als Leser durch diesen intelligenten Plot zu folgen. Und so flüstert sie einmal, ganz nonchalant, ihrem Franz beim Liebesakt zufrieden ins Ohr: «Mensch, Franz»!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Die Witwen

leupold-3Kein Highlight

Bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 hat es Dagmar Leupolds neuer Roman «Die Witwen» geschafft, weiter allerdings nicht. Mit der Ergänzung «Ein Abenteuerroman» und seinem frechen Cover mit engelsgleichen Frauengestalten lädt dieses Buch geradezu zum Lesen ein, verspricht doch beides eine vergnügliche Lektüre. Nach «Edmond» von 1992 und «Unter der Hand» von 2013, ihrem letzten Roman, war ich doch sehr gespannt, ob der neue ähnlich forsch und charmant erzählt ist, eventuell gar eine Steigerung darstellt gegenüber den zwei anderen Romanen. Ich wurde, um es gleich vorweg zu sagen, ziemlich enttäuscht.

Ein glückverheißendes Kleeblatt sind jene vier Schulfreundinnen aus Berlin, die auch nach dem Abitur eng befreundet bleiben. Penelope heiratet und folgt ihrem Mann Otto an die Mosel, wo die Schwiegereltern ein Weingut mit angeschlossenem Gasthaus betreiben. Sie haben einen Sohn, ihr Glück scheint perfekt, bis eines Tages Otto von einer Dienstreise nach Fernost nicht zurückkommt, er bleibt spurlos verschollen. Penny, wie die Freundinnen sie nennen, stellt keine Nachforschungen an, selbst nach vielen Jahren kann sie sich nicht dazu durchringen, ihn für tot erklären zu lassen. Sie ist de facto Witwe, de jure nicht, aber sie will dies einfach nicht wahrhaben, ignoriert hartnäckig die offensichtliche Realität. Nach und nach folgen ihr die drei anderen Freundinnen aus der quirligen Großstadt in den beschaulichen Winzerort Steinbronn. Sie wollen ihr Leben entschleunigen, zu sich selbst finden in der idyllischen Umgebung. Auch sie sind ohne Mann, waren nie verheiratet, haben sich beruflich als Gärtnerin, Joga-Lehrerin und Logopädin selbstständig gemacht und sich behaglich, aber illusionslos in ihrem Singledasein eingerichtet. Die vier unzertrennlichen Freundinnen verharren antriebslos in einer Art Wartestand, ohne recht zu wissen, worauf genau sie denn warten.

Eines Tages jedoch wachen sie auf aus ihrer Lethargie und beschließen spontan, mit dem Auto eine Reise ins Blaue zu machen. Da keine von ihnen den Führerschein hat, suchen sie einen Chauffeur, der den Mietwagen fahren soll, und entscheiden sich unter den Bewerbern einstimmig für Bendix, ein vor sich hin lebender Privatier aus dem Ort, geistreich aber wortkarg, ebenfalls alleinlebend, ebenfalls mit sich selbst nicht im Reinen. Es geht die Mosel aufwärts zum Col de Bussang, zur Moselquelle. Bei einer Panne in einsamer Lage der Vogesen beginnt eine der Frauen plötzlich von sich zu erzählen, und nacheinander legen alle vier eine schonungslose Lebensbeichte ab, reden sich wie im Rausch ihren Frust von der Seele. Die intime Beichte der Frauen offenbart ihre Verletzlichkeit, enthüllt Verdrängtes, zeigt die harte Realität ihrer so unterschiedlichen Lebensgeschichten auf, ihre zerplatzten Träume, ihre Illusionen über Männer, die sich stets als Enttäuschung erweisen.

Und auch ihr Chauffeur Bendix wird nachdenklich, hinterfragt grübelnd sein Einsiedlerdasein: «Er wollte von der Welt nicht mehr wissen als ein Säugling. Er wollte vergessen, was Angst war. Ja, das war die Schrebergartenfantasie, der Entwurf eines Gärtleins aus Wohlbehagen mit Rabatten, deren Geradlinigkeit wildgezackte Unruhen vertrieben. Und bucklicht Männlein auch. Und Lumpensammler. Auch Engel hatten dort nichts verlorenen.» Man wird mit lebensklugen Reflexionen konfrontiert, von Dagmar Leupold in einer amüsant saloppen Weise gekonnt erzählt, oft verblüffend direkt formuliert, ihrem sehr persönlichen Stil folgend. All das ist durchaus erfreulich zu lesen. Nicht gelungen jedoch sind die Figuren, alle Protagonisten bleiben merkwürdig blutarm, man kommt ihnen nicht näher, Sympathie gar entwickelt sich nicht zu ihnen. Und was den Plot anbelangt, so konnte er mich ebenfalls nicht überzeugen, zu weit herbeigeholt und konstruiert wirkt dieses Abenteuer, über das da so munter berichtet wird. Schade eigentlich, die Geschichte hätte von der Idee her das Potential zu einem lesenswerteren Roman gehabt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung