Der Distelfink

Vom Problem der dicken Wälzer

An ihrem dritten Roman hat die bei uns kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin Donna Tartt zehn Jahre lang gearbeitet. Was sich wohl auch gelohnt hat, denn ihr Opus magnum wurde von der dortigen Kritik euphorisch besprochen und erhielt den Pulitzer Prize des Jahres 2014. Die Idee zu der Explosion, mit der die Coming-of-Age-Geschichte des anfangs 13jährigen Theodore Decker beginnt, habe die Autorin unter dem Eindruck der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan entwickelt, heißt es. Ebenso zufällig wäre es auch gewesen, dass die Autorin das titelgebende Gemälde des niederländischen Malers Carel Fabritius entdeckt und in ihre Geschichte eingebaut hat.

Bei einem von seiner kunstbegeisterten Mutter vorgeschlagenen, spontanen Besuch des berühmten Metropolitan Museum in New York wird ein Bombenanschlag verübt, den Theo leicht verletzt überlebt. Als er nach kurzer Ohnmacht in den Trümmern des Gebäudes erwacht, ist seine Mutter nicht zu finden. Er bemerkt aber in der Nähe einen sterbenden alten Mann, dessen hübsche Nichte ihm kurz vor der Explosion in dem Raum, wo er das Gemälde «Der Distelfink» betrachtet hat, aufgefallen war. Auf Drängen des sterbenden Welton Blackwell, der ihm seinen karneolbesetzten Fingerring geradezu aufdrängt, nimmt er auch das unbeschädigt gebliebene, kleine Gemälde in seiner Tasche mit, als er sich durch die Trümmer ins Freie durchkämpft. Es braucht über hundert Buchseiten, bis der völlig aus der Bahn geworfene Theo endlich begreift und akzeptiert, dass seine Mutter nicht überlebt hat. Er wird vom Sozialdienst vorerst bei den wohlhabenden Eltern seines besten Freundes Andy untergebracht und nimmt später Kontakt auf zu Hobart, dem ehemaligen Kompagnon des verstorbenen Blackwell, die Beiden hatten zusammen eine Antiquitätenwerkstatt betrieben. Dort trifft er nicht nur Pippa wieder, die Hübsche aus dem Museum, in die er sich verliebt, er lernt in der Werkstatt auch einiges über Möbelrestaurierung. Plötzlich aber meldet sich Theos Vater, ein alkoholkranker und spielsüchtiger, erfolgloser Filmschauspieler, der Frau und Sohn schon vor einiger Zeit verlassen hat. Der Vater nimmt Theo mit nach Las Vegas. Dort gerät Theo zunehmend auf die schiefe Bahn, rutscht zusammen mit seinem neuen Freund Boris ins kleinkriminelle Milieu ab, ihr Leben ist geprägt von Alkohol und Drogen. Als Theos Vater bei einem Autounfall stirbt, verschwindet der inzwischen 15Jährige aus Las Vegas, um nicht wieder vom sozialen Dienst zu einer Pflegefamilie gegeben zu werden. In New York wird er dann wieder von Hobart aufgenommen.

Donna Tartt erzählt in diesem dickleibigen Roman eine äußerst wechselhafte Geschichte voller Überraschungen, in der auch das titelgebende Gemälde immer wieder eine gewichtige Rolle spielt. Die Odyssee ihres zweifelhaften jungen Helden und Ich-Erzählers gerät nebenbei zu einer moralischen Wertediskussion, in der es zudem um psychologische Fragestellungen geht. Die Figur des Protagonisten Theo ist wenig einnehmend gezeichnet, er wird als ziemlich trotteliger, langweiliger und vor allem emotionsloser Mensch beschrieben, dem man nicht näher zu kommen vermag als Leser. Schon ganz am Anfang tritt er als Versager auf, denn seine Mutter und er waren auf dem Weg zu einer Besprechung mit der Schulleitung wegen seiner Versetzung. Sie hatten aber noch reichlich Zeit und sind nur deshalb noch kurz ins Museum gegangen!

Der mehr als tausend Seiten dicke Wälzer voller erzählerischer Kapriolen verliert sich selbstvergessen in üppigen Arabesken. Anders als bei anderen Schwergewichten der Romanliteratur aber bietet die Sprache selbst hier keinen Lesegenus, sie ist amerikanisch einfach und nüchtern, eine Lektüre ganz ohne Suchtpotential. Der komplette Plot hätte gut auch auf dreihundert Seiten erzählt werden können, ohne dass die Intention der Autorin dadurch Schaden genommen hätte. Und dann wären, nebenbei gesagt, auch nicht volle zehn Jahre nötig gewesen, um dieses Buch zu schreiben!

Fazit:    mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Goldmann München

Der Distelfink

“Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewußt, aber jetzt gibt es keine andere mehr. Dies ist die einzige Geschichte, die ich je werde erzählen können.” Zwanzig Jahre ist es her, dass dieser Satz den Prolog von Donna Tartts geheimer Geschichte beendete,  zwanzig Jahre, in denen von der Autorin außer einem kleinen, schmalen Band nichts zu lesen war und man zu fürchten begann, dieser Satz wäre zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Die geheime Geschichte. Viele werden sich erinnern, als Anfang der 90er Jahre dieses wortgewaltige Debüt wie aus dem Nichts auftauchte und unzählige Leser in seinen Bann zog. Es war eines der nachdrücklichsten Werke des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ein Buch, das auch Jahrzehnte später unvergessen und präsent im Gedächtnis seiner Leser ist. Immer verbunden mit dem Wunsch, diese Autorin möge noch einmal so ein monumentales, berührendes, verstörendes Werk schreiben. Zwanzig Jahre Zeit hat sie sich dafür gelassen, zehn Jahre davon verbrachte sie damit, das so sehnlich erwartete zweite Meisterwerk zu verfassen. Zehn Jahre nicht nur für die Entstehung des Buches, zehn Jahre ist auch genau die Zeitspanne, den das Buch umfasst. Spannend, sich vorzustellen, wie die Autorin zehn Jahre in genau diesem Zeitraum mit ihrer Geschichte gelebt hat.

Der Distelfink. Genauso verstörend, genauso begeisternd, genauso meisterhaft und monumental wie die geheime Geschichte. Noch bevor ich die erste Seite aufschlug, hatte ich meine ganz eigene Geschichte mit diesem Buch. Die geheime Geschichte gehört ganz sicher zu den “Büchern meines Lebens”, meine Erwartungshaltung an ein nachfolgendes Werk war enorm und meine Aufregung groß, als ich vor 2 Jahren in einer holländischen Buchhandlung “het puttertje” sah. Mein Wunsch nach einem zweiten, ebenso epochalen Werk schien endlich erhört zu werden, doch ich musste mich noch lange gedulden, bis das Werk endlich auch dem deutschen Markt zugänglich war. Der Distelfink wurde zeitgleich in den USA und den Niederlanden veröffentlicht, was schon nach kurzer Lektüre nicht mehr verwundert. Ein entscheidender Teil des Buches spielt in Amsterdam, der Ich-Erzähler bezeichnet die Stadt als sein persönliches Damaskus und noch vor der Lektüre schien es mir eine gute Wahl. Das Bild, das ich mir von der Autorin und ihren Geschichten gemacht hatte, passt außerordentlich gut in diese Stadt.

Der titelgebende Distelfink ist ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Bild des holländischen Malers Carel Fabritius. Fabritius war ein Rembrand-Schüler, der 1654 bei einer Explosion der Delfter Pulvermühle ums Leben kam. Bei dieser Explosion ging auch ein Großteil seiner Werke verloren. Der bis heute erhaltene Distelfink ist ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert und im den Haager Mauritshuis zu besichtigen. In Donna Tartts Roman wird dieses Bild wiederum durch eine Explosion bedroht. Im Roman ist das Bild eine Leihgabe im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Der junge Theo Decker besichtigt es mit seiner Mutter, als sich die (fiktive) Explosion ereignet. Die Mutter verliert ihr Leben, das Kind Theo überlebt und nimmt im Chaos und der Panik der Explosion das Bild von der Wand und flieht mit diesem in eine ungewisse Zukunft. Das verstörte Kind wird von einem Ort zum anderen gereicht, seine einzige Konstante ist der Distelfink. Das kleine Bild ist Millionen wert, was ihm aber (noch) nicht klar ist. Für ihn ist es die letzte Verbindung zur Mutter, sein Trost inmitten seines von Einsamkeit und Verlassenheit geprägten Lebens.

Donna Tartt, der Distelfink

Einen Teil seiner Jugendjahre verbringt er in der surrealen Wüste unweit von Las Vegas. Dort lernt er den charismatischen, furchtlosen aber auch unzuverlässigen Ukrainer Boris kennen. Durch Boris erfährt Theo erstmals wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit und Anerkennung, allerdings um den Preis einer nicht mehr endenden Sucht nach der Welt halluzinierender Drogen, in die Boris ihn mitnimmt. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die Theos Leben bestimmen und überschatten wird. Boris Hang zur selbstverliebten Selbstzerstörung führt trotz mancher Wendungen, die die Handlung noch zurück ins Gute hätte führen können, zur Katastrophe. Wenn überhaupt etwas die mittlerweile erwachsenen Männer aus dieser Katastrophe herausholen kann, wird es die Liebe zur Kunst und zu Geschichten sein. Nur dieser “polychrome Rand zwischen Wahrheit und Unwahrheit” macht es ihnen “überhaupt erträglich, hier zu sein.” “Unheil und Katastrophen sind diesem Gemälde durch die Zeiten gefolgt, aber auch die Liebe.” Und so fügt Theo Decker seine Geschichte den “Geschichten der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet haben, […] die sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, strahlend singend aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.”

Wie schon die geheime Geschichte ist auch der Distelfink getragen von Donna Tartts einzigartigen, unverwechselbaren Art zu erzählen. Sie erzählt leichtfüßig, manchmal bewusst lakonisch, um ihrer Erzählung das Schwere, die Tiefe zu nehmen. Doch so leicht man das Buch auch liest, so schwer hallt es nach, so schwer ist es zu ertragen. Auf der einen Seite ist es ein trauriges Buch, das auf die so banale wie bittere Wahrheit “aus diesem Leben kommt keiner lebend raus” hinausläuft. Auf der anderen Seite vermag das Buch auch Hoffnung geben. Nie wurde schöner klar, warum die Unsterblichkeit der Kunst solch ein Trost sein kann. Die Kunst zeigt uns “dass das Schicksal grausam ist, aber nicht beliebig” und dass das unausweichliche Gewinnen des Todes nicht bedeuten muss, dass “wir um Gnade winseln müssen. Es ist unsere Aufgabe, geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube und dabei Augen und Herz offen zu halten” damit die “Gegenwart eine strahlende Scherbe der Vergangenheit in sich tragen kann”. Schlussendlich sind es die buntesten Exzentriker aus dem Distelfinken, die den Leser mit der tröstlichen Gewissheit entlassen, “dass es zwischen der Realität auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft” “eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand”,gibt, “wo die Schönheit ins Dasein kommt, das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie.” Kunst als Magie, die den Tod und allem Kummer überwindet.

Der Distelfink ist aber nicht nur eine Reflexion über den Trost der Kunst, es ist auch ein Buch über Verlust, Obsession, Lebenskraft und die gnadenlose Ironie des Schicksals und vor allem über die Freundschaften, die all das mit sich bringen. Theo Decker hat sich nie von dem frühen, seine Welt erschütternden Ereignis der Explosion im Museum erholt, und es sind seine Freundschaften gewesen, die ihn bei aller zerstörerischen Kraft überhaupt am Leben erhalten haben. Und so endet dieses Buch in einem schon fast pilosophischen Diskurs nicht nur über die Macht der Kunst und der Freundschaft, sondern auch übergeordnet in der Frage, ob aus Gutem Böses erwachsen kann und umgekehrt.

Der Distelfink ist ebenso wie die geheime Geschichte eine uralte, sich über die Jahrhunderte immer wieder wiederholende Geschichte, aber trotzdem ein klarer Gegenwarts-Roman. Der Vergleich mit einem anderen Buch der jüngeren Zeit drängt sich auf und es bleibt nur ein Schluss: Der Distelfink ist das, was Bonita Avenue gerne gewesen wäre. Anders als Peter Buwalda traut Donna Tartt ihren Lesern aber einiges zu. Risikofreudiger als sie kann man keine Bücher schreiben. Angefangen davon, wie unbeeindruckt sie sich die Zeit nimmt, die sie für ihre Bücher braucht bis hin zum Anfang des Buches, wo sich ein völlig kaputter Erzähler schon bald als Mörder entpuppt. Donna Tartt schreibt nicht, um Erwartungen zu erfüllen, sie schreibt, um ihre Geschichten zu erzählen. Man möge ihr folgen oder es lassen.

Ich empfehle dringend: Folgen und sich auf die Geschichte einlassen, auch wenn es nicht einfach ist. Und wer die geheime Geschichte noch nicht kennt: Dringend nachholen.
Sehr dringend.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift. 


Genre: Romane
Illustrated by Goldmann München