Es muss sein
Irrte die Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung, als sie «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera im Jahre 2004 in den Kanon der 50 großen Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts aufnahm? Dieser Roman des tschechischen Autors wurde zwanzig Jahre vorher im Exil in Paris veröffentlicht und gilt seither als sein erfolgreichstes Buch. Schon der Titel lässt ahnen, dass Philosophie einen breiten Raum einnimmt darin, und zur Gewissheit wird diese Vermutung, wenn man den ersten Satz gelesen hat: «Die ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht». Erst drei Seiten später erfolgt dann der Schwenk von der philosophischen Betrachtung hin zur Epik, zum «eigentlichen» Roman, den man als Liebesroman in einem schwierigen politischen Umfeld bezeichnen könnte, der Prager Frühling und seine brutale Niederwerfung bilden den zeitlichen Hintergrund. Die Gratwanderung des Autors zwischen mehr oder weniger tiefsinniger Philosophie und der zu erzählenden Geschichte ist gewagt. Sie ist auch nicht jedermanns Sache und polarisiert die Leserschaft selbst heute noch.
Zwei Paare bilden die Protagonisten einer Geschichte um Liebe, Ehe und Treue. Der notorisch polygame Arzt Tomas aus Prag lernt die schüchterne Kellnerin Teresa durch eine, wie es ihm vorkommt, seltsame Reihung von nicht weniger als sechs bemerkenswerten Zufällen kennen. Er heiratet sie kurz entschlossen, womit er sie in das seelische Chaos der Eifersucht stürzt. Franz, Universitätsdozent in Zürich, betrügt seine Frau mit der Künstlerin Sabina, einer ehemaligen Geliebten von Tomas, die ins Exil gegangen ist. Sie verlässt ihn ohne Abschied, weil Franz sich plötzlich von seiner Frau scheiden lassen will, was in Sabinas Augen ihrer Beziehung das erregend Verbotene, Versteckte nimmt und sie damit profan werden lässt. Kundera beleuchtet intensiv die psychischen Befindlichkeiten seiner Figuren, wobei der schnelle Sex und dessen strikte Trennung von der seelischen Liebe zu vorhersehbaren Verwicklungen führen.
Ein zweiter Themenschwerpunkt des Romans sind die Verhältnisse unter der kommunistischen Diktatur in der CSSR, die zu einer aberwitzigen Gemengelage aus Bespitzelungen, Verleumdungen und Verdächtigungen führen. Nach dem Sturz von Dubçek hatte sich ein verlogenes und heuchlerisches politisches System etabliert, in dem Tomas, einst Star-Chirurg in Prag, nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil zunächst Fensterputzer werden muss und schließlich als LKW-Fahrer endet. Der Autor deckt die subtilen Methoden der Staatsmacht auf, die im Kampf um den Machterhalt kein Mittel scheut, Kritiker des nicht nur wirtschaftlich maroden Systems einzuschüchtern und mundtot zu machen. Was bei Tomas allerdings nicht gelingt, er bleibt unbeugsam und nimmt die Konsequenzen auf sich.
Trotz diverser Reflexionen über seine Autorschaft kann Kundera letztendlich nicht verbergen, dass er den Roman ungeniert als Vehikel zur Verkündung eigener philosophischer Thesen benutzt. So zum Beispiel, wenn er Chirurgie als Sakrileg hinstellt, der Absicht Gottes widersprechend, oder wenn er der Frage der Defäkation nachgeht in Hinblick auf Gott, den man sich auf der Toilette schlichtweg nicht vorstellen könne, obwohl der Mensch doch nach seinem Ebenbilde geformt sei. Seine Stichwörter reichen vom Kitsch über Platons Symposion bis zum Prager Fenstersturz, von den Motiven des Machos auf der Frauenjagd bis zum Imperativ «Es muss sein» in Beethovens Streichquartett opus 135, der sogar in Notenschrift mit abgedruckt ist. In seiner thematischen Mixtur bleibt Kunderas Buch bis zum Schluss gleichermaßen unterhaltend wie bereichernd.
Fazit: lesenswert
Meine Website: http://ortaia.de