Tessa

Larlsson TessaIn Nicola Karlssons Debütroman „Tessa“ erleidet der Leser die Schussfahrt der Protagonistin durch die Berliner Tankstellen ihrer Sucht.

Tessa ist jung, begehrenswert und schön, sie könnte  theoretisch glücklich sein. Früher hat sie mal als Model gearbeitet, doch da sie inzwischen keinen Erfolg mehr in der Branche hat und sich mit McJobs finanziell über Wasser halten muss, hat sie anscheinend beschlossen, ihren Körper dafür zu bestrafen, indem sie ihn konsequent ruiniert. Dass sie seit längerem psychiatrischer Behandlung ist, die mit der regelmäßigen Einnahme von Lithium, Antidepressiva und Barbituraten verbunden ist, hält sie jedenfalls nicht davon ab, sich selbst zusätzlich mit Wodka, Wein und Koks zu medikamentieren. Bereits im ersten Kapitel führt ihre manische Beziehungssucht zu heftigem Beziehungsstress mit ihrem Freund Nick. Als sie abends ohne Nick mit ihrer Freundin Charlotte in einer Bar ist, flirtet sie derart heftig mit dem Barmann, dass der später gegen ihren Willen über die wehrlose weil total betrunkene Tessa herfällt. Irgendwie kommt sie wieder nach Hause, ihre Blessuren erklärt sie Nick mit einem Fahrradunfall. Ein paart Tage später legt sie Nick nach Charlottes Geburtstagsfeier die nächste Eifersuchtsszene hin und als er sie auf ihren Konsum anspricht rechtfertigt sie sich:

„Aber ich fühle mich unsicher, und deswegen betrinke ich mich, und dann passieren mir solche Sachen.“
Nick entgegnet kühl: „Halt mich daraus. Ich habe keine Lust auf diese Art von Beziehung. Das ist doch krank.“
Aber ich bin krank.“ – „Dann tu was dagegen, aber hör auf, alle anderen damit zu terrorisieren.“

Das ist das Grundthema des Romans: Tessa ist Opfer ihrer Erkrankung, die in Richtung Bipolar oder Borderline geht. In ihren manischen Schüben macht sie die Drama-Queen und ist andererseits nicht zu wirklicher Nähe fähig, die sie sich zwar einerseits sehnlichst wünscht, vor der sie jedoch gleichzeitig flieht. In ihren depressiven Phasen versinkt sie in Einsamkeit, Selbstmitleid und Weltschmerz. Sie hat zwar eine Krankheitseinsicht, verweigert sich aber ärztlicher Hilfe, zu ihrer Ärztin geht sie nur, wenn sie mal wieder dringend ein neues Rezept für die Pillenbude braucht. Der nächste Club ist ja nicht weit und dort gibt es immer einen Mann, der Stoff hat oder einen Wodka ausgibt, wenn sie ihn dafür mal rüber lässt. Nachdem sie sich von Nick getrennt hat ist sie frei und lernt Jochen kennen, der ist zwar verheiratet, aber egal, ein anderes Mal macht sie ihren Bekannten Jens klar, obwohl sie weiß, dass ihre Freundin Charlotte ernsthaft an ihm interessiert ist  und zwischendurch wacht sie auch mal morgens nackt neben ihrem Dealer Uwe und ihr unbekannten Männern oder Frauen auf. Bis sie in einer Bar auf zwei üble Freaks trifft und nicht rechtzeitig den Absprung kriegt …

Der Roman ist eine Zumutung. Mehrere Mal gelobt Tessa Besserung und ein drogenfreies Leben, ebenso oft wird sie routiniert rückfällig. Ihr Trugschluss, dass sie ihren Konsum im Griff hat, wird spätestens deutlich, als sie nachts beim Spätkauf die zweite Flasche Wein holt und zuhause öffnen will:

„Der Korkenzieher liegt nicht griffbereit, und sie kann ihn auch sonst nirgends sehen. Sie öffnet die Küchenschubladen. Nein. Sie geht zwei Schritte zur Spüle. Sieht hinein. Kann ihn zwischen dem dreckigen Geschirr nicht entdecken. Nein. Sie geht wieder zur Flasche, entfernt das Plastik vom Flaschenhals und starrt auf den Korken. Sie nimmt die Flasche in die Hand und setzt sich erst einmal auf den Küchenstuhl. Nachdenken. Ruhig bleiben. Wo hat sie die andere Flasche aufgemacht? Leere in ihrem Kopf. Wie steht wieder auf und schiebt das dreckige Geschirr zur anderen Seite. Irgendwo muss dieser scheiß Korkenzieher ja sein. Vielleicht kann sie den Flaschenhals sauber abschlagen. Nein. Sie wandert in ihrer Wohnung umher. Sie sucht unter dem Kleiderhaufen. Geht von Zimmer zu Zimmer. Sieht sich immer wieder die Flasche an. Vielleicht kann sie den Korken mit einem Besteckgriff reindrücken. Nein. Der Wein schmeckt dann scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Wenn sie nur einen Schluck trinken könnte. Im Wohnzimmer bricht sie zusammen, knickt in die Knie, hält die Flasche fest umklammert. Sie beugt sich nach vorne und schlägt ihren Kopf auf den Boden. Warum nur kann sie sich nicht erinnern, wo sie den scheiß Öffner gelassen hat? Sie muss sich zusammenreißen, ruhig bleiben. Sie zwingt sich aufzustehen. Geht wieder in die Küche, stellt sich an die Spüle. Sie versucht sich zu erinnern, aber je mehr sie sich anstrengt, umso weniger Gedanken hat sie in ihrem Kopf. Sie imitiert das Öffnen der Flasche und versucht dabei, ihre Panik und aufsteigende Tränen zu unterdrücken. Sie dreht sich zum Mülleimer, öffnet ihn und entdeckt den Korkenzieher im stinkenden Müll. Den alten Korken muss sie erst einmal abdrehen.“

Nicola Karlsson liefert hier nicht weniger als die detaillierte Momentaufnahme eines Suchtmenschen in der Situation chronischer Entzügigkeit, den Stoff vor Augen jedoch  unerreichbar entfernt und entsprechend kurz vor der Panikattacke. Wäre „Tessa“ das Psychogramm einer Generation, dann wäre diese durch das Hauptmerkmal der Betäubung und Ziellosigkeit gekennzeichnet. Ist es aber nicht, es ist eine Fallstudie im wahrsten Sinne des Wortes, dass Tessa im Laufe ihrer Drogenkarriere immer weiter wie die Stufen einer Treppe hinunterfällt, das Ende nicht erkennbar, nur zu ahnen, dass es ganz weit unten ist. Dafür stehen auch die hervorragend eingefügten Szenen, in denen Tessa in den Straßen Pennern und Pfandflaschensammlern begegnet, Menschen, vor denen sie sich ekelt und von deren Situation sie nur eine Schicht Makeup und die drohende Mietkündigung entfernt ist.

„Tessa“ spielt zwar in Berlin, doch es ist auch kein Berlin-Roman, dafür sind die Verweise auf die Stadt zu dürftig, auch wenn die Stadt bereits in zahllosen Romanen als die  Partymetropole der Republik besungen wurde. Eine Koksparty und der Spätkauf  machen noch keinen Bären. Wenn Karlsson mit „Tessa“ eine Aussage über Berlin macht, dann höchstens diese, dass das Märchen vom chilligen und kommunikativen  Leben dort ein Märchen ist. Berlin ist hart, asozial und verdammt einsam, von Hilfsbereitschaft keine Spur. In diesem Sinne funktioniert auch eine der wenigen Szenen, in der wir die Stadt wiedererkennen, als Tessa nachts über den Alex zu ihrem Dealer Uwe läuft. Das Bild vom Platz mit Punks und Pennern beschwört noch die nächtliche Großstadtdschungelromantik. Als Tessa in Nebenstraßen jemanden hinter sich Laufen zu hören glaubt, kippt die Stimmung ins Bedrohliche, man fühlt sich an den Film Noir mit seinen düsteren  Licht-Schatten-Effekten erinnert. Leider bleibt es eine der wenigen Szenen, in denen die Stadt Berlin durchschimmert; bei den zahllosen Wegen, die Tessa auf ihrer Odyssee zwischen Koksparty, dem nächsten Weinkühlschrank, Bett und Pillenbude zurücklegen muss, wäre da wesentlich mehr drin gewesen. So bleibt Tessa in erster Linie die Geschichte der Drogenkarriere einer jungen Frau. Das ist nicht neu, denn dass der Abstieg in die Sucht nicht an ein Mindestalter jenseits der 30 gekoppelt ist, haben bereits in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts im Westsektor der damals noch geteilten Stadt die wesentlich jüngeren „Kinder vom Bahnhof Zoo“ eindrucksvoll auf nonfiktionaler (!) Ebene verdeutlicht.

Nicola Karlsson hat mit „Tessa“ ein sperriges Romandebüt vorgelegt, dass dem Leser fast kein Detail der Selbstentwürdigung eines Menschen im Teufelskreis der Sucht erspart. Die literarische Umsetzung des inneren Gedankenrasens der Protagonistin Tessa ist bemerkenswert, ihr Portrait als einer zutiefst zerrissenen Persönlichkeit interessant. Der Teufelskreislauf der Sucht ist ein in seiner Banalität bekannter Allgemeinplatz, insbesondere die Art und Weise, wie Nicola Karlsson dieses Schicksal gnadenlos seziert, hat einen ganz eigenen, düsteren Klang, der in der Masse der literarischen Debüts hervorsticht.


Genre: Romane
Illustrated by List München

Sternenreiter

Man muss die kindliche Anarchie in sich wiederentdecken, um auf den Sternen zu reiten

Der Autor Jando erzählt in seinem Buch „Sternenreiter – Kleine Sterne leuchten ewig“ davon, dass man heute noch an Wunder glauben soll.

Mats ist Angestellter eines renommierten, börsennotierten Unternehmens und glaubt nicht mehr an seine Träume – zu sehr ist er daran gewöhnt, in der Arbeitswelt, die aus Sitzungen, Kundenpräsentationen, Kursschwankungen und koffeinbetriebenen Überstunden besteht, zu funktionieren. Auch seine Frau Kiki erreicht ihn nicht mehr, die Arbeit geht vor, schließlich muss das Haus abbezahlt und der gehobene Lebensstandard gehalten werden. Doch dann kommt es unerwartet zu einem Ereignis, das Mats zwingt, innezuhalten. Ein kleiner Junge hilft ihm dabei, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sein Leben neu zu gestalten.

Die Welt mit anderen Augen sehen ist das Thema des Buches, für das der Leser die Bereitschaft aufbringen sollte. „Wenn wir anfangen, auf unser Herz zu hören, werden wir Dinge im Leben erkennen, die uns unvorstellbar erschienen.“, schreibt Jando als Ouvertüre in den Klappentext. Damit ist „Sternenreiter“ thematisch ein Buch, das sich kritisch mit dem Leistungsdenken und den negativen Erscheinungen wie Erfolgsdruck, Versagensangst, Gier und Einsamkeit im gegenwärtigen Neoturbokapitalismus beschäftigt. Das erinnert an Tom Hodgkinson der in „Die Kunst, frei zu sein – Handbuch für ein schönes Leben“ schreibt: „Karrieren gestatten uns nicht, wir selbst zu sein, denn ihr Erfolgsmaßstab sind nicht Spaß an der Arbeit und Kreativität, sondern Geld und Status. Ein Beruf dagegen – im Sinne von Berufung – ist eine Aufgabe, mit deren Erledigung du deinen Lebensunterhalt verdienst und die dir gleichzeitig Spaß macht.“
Wo Hodgkinson rational argumentiert und vorführt, wie man sich aus diesen Zwängen befreien kann, wählt Jando den Stil eines modernen, poetischen Märchens. Das ist logisch, denn er weiß, dass er diejenigen Leser, die am dringendsten darauf angewiesen sind wieder wie als Kind auf ihr Herz zu hören und an Wunder zu glauben, nur mit der Stimme des Herzens und der Poesie erreicht. Und damit erinnert er einerseits in seiner Vision an Friedrich Nietzsches Satz des Zarathustra: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“, dem der Titel dieser Rezension entlehnt ist: Denn es geht nicht darum, das eigene kindliche Chaos zu haben, sondern darum, es wiederzuentdecken und sich wieder anzueignen. Andererseits fühlt man sich an den vielzitierten Satz: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ von Antoine de Saint-Exuperys Kleinem Prinzen erinnert.
Diese Herzenssicht entwickelt Jando im Sternenreiter weiter, zu einer wahrhaften und poetischen Erziehung des Herzens:

„Der wertvollste Samen,
der in die Erde eingesetzt wird,
ist die Liebe.
Sie wächst überall dort,
wo sie gesät wird.“ (Sternenreiter, S. 5)

Gemeinsam mit dem anarchischen Ungehorsam gegen das Leistungssystem entsteht ein Plädoyer für Freundschaft, Menschlichkeit und die Verwirklichung von Träumen:

„Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wärest. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ (Sternenreiter, S. 10)

Der Ausdruck des Sternenreiters von den „großen Menschen“ ist eine bewusst Adaption an „die großen Leute“ des Erzählers aus dem kleinen Prinzen. Stilistisch daran angelehnt setzt Jando die Begegnung des Erzählers mit dem Sternenreiter allerdings – im Gegensatz zu Exupéry – nicht in eine isolierte Situation, sondern in eine realistische Alltagssituation und schafft damit einen neuen poetischen Realismus. Dazu die Leseprobe aus dem Prolog:

Die Sterne leuchteten heller als sonst. Das Meer war ruhig. Im Mondlicht schimmerte es silbrig blau. Um mich herum war es still. Es war eine himmlische Ruhe, wie ich sie nur am Meer erlebte. Fünf Jahre sind vergangen, seit ich diesen sonderbaren – nein, sonderbar wird ihm nicht gerecht – vielmehr einzigartigen Jungen kennenlernen durfte. Schnell wird in unserer heutigen Zeit das Wort „Legende“ benutzt. Doch bei ihm trifft es zu. Seine Geschichte wird Generationen überdauern. Es ist eine Geschichte über Liebe, Mut und Hoffnung. „Na und? Das habe ich schon oft gelesen“, werden vielleicht einige sagen. Das mag stimmen und hat auch seine Berechtigung. Doch wenn ihr euch einlasst auf die Geschichte des Jungen − nur Gott allein weiß, woher er kam − können Träume wahr werden. Ich habe es selbst erlebt. Ich kann mich noch gut an seine Antwort erinnern, als ich zu ihm sagte: „Ach, Träume… Ich habe es aufgegeben, meine Kraft und den Glauben daran zu verschwenden.“ Der Junge antwortete, wie es seine Art war, langsam und bedächtig: „Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wäret. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ Damals konnte ich wenig mit seiner Antwort anfangen. Na ja, wenn ich es mir eingestehe, schon ein bisschen. Doch zur damaligen Zeit war ich noch nicht bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Aber dazu komme ich später. Mir war er der beste Freund, den ich mir wünschen konnte. Irgendwann erwähnte er in einem unserer zahlreichen Gespräche: „Wenn ich einmal groß bin, möchte ich gerne allen Menschen erzählen, wie einzigartig das Leben ist. Ich spreche und höre lieber zu, anstatt zu schreiben. Du wirst einmal ein beachtenswerter Schriftsteller sein. Ich wäre glücklich, wenn du es wärest, der meine Geschichten weiterträgt. Jeder sollte das tun, was er am besten kann und was ihm am meisten Freude bereitet.“ Das war das Geringste, was ich für meinen Freund tun konnte. Für ihn ging aber wieder einmal ein Traum in Erfüllung…“

Was diese Melodie des Textes auf der literarischen Ebene einlöst, begleiten die handgemalten Bilder der Kinder- und Jugedbuchillustratorin Antjeca auf der bildpoetischen Ebene: durch die schlichte Form einer Kalkulation größtmöglicher Einfachheit entsteht die Radikalität der Bildsprache hin zu einer ozeanischen Zärtlichkeit. Diese poetische Wirkung ist die Fähigkeit des Textes und der Bilder, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen. Dieses ist meine ganz persönliche Lesart.

Mit dem „Sternenreiter“ ist dem Autor – nach seinem Erstling Windträume – wieder ein wundervolles und poetisches Buch gelungen, das ich uneingeschränkt empfehle. Doch nicht nur das, denn ein gutes Buch sollte man empfehlen, ein sehr gutes seinen Freunden ans Herz legen und die wirklich besonders wichtigen Bücher sollte man seinen besten Freunden schenken. Ich freue mich darauf, meinen besten Freunden mit dem „Sternenreiter“ ein Herzensgeschenk zu machen.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Happy Family

Eine schrecklich nette Monsterfamilie

In seinem neuen Roman „Happy Family“ schickt David Safier eine desperate Durchschnittsfamilie nach Transsilvanien

Eine verflucht nette Familie Familie Wünschmann ist nicht wirklich glücklich miteinander. Mama Emmas Buchladen geht den Bach runter, Papa Frank steht kurz vor dem Burnout, die pubertierende Fee dreht in der Schule am Rad und eine Ehrenrunde, und Nesthäkchen Max wird von dem Mädel, das er anhimmelt, ins Schulklo getunkt. Wenn die Familie Zeit miteinander verbringt, hacken sie generell aufeinander herum. Kurz, die Wünschmanns stehen kurz vor der Auflösung. Um das familiäre Desaster perfekt zu machen, werden sie allesamt nach einem Kostümfest auch noch von einer Hexe verzaubert: Plötzlich sind sie Vampir, Frankensteins Monster, Mumie und Werwolf. Gemeinsam jagen die frischgebackenen Monster um den halben Erdball, der Hexe hinterher, damit diese den Fluch wieder rückgängig macht. Dabei treffen sie auf jede Menge echte Ungeheuer: Vampire, Riesenechsen und schwäbische Pauschaltouristen. Sogar auf Dracula höchstpersönlich, der mit seinem unwiderstehlichen Charme Mama Emma verführen will.

Das Grundproblem wird schnell klar; in dieser Familie nervt jeder jeden, Tochter Fee mit ihrem pubertären Genöhle die Mutter, der kleine Klugscheißer Max seine Schwester mit Besserwissereien und der lethargische Ehemann Frank seine Frau. Kurz nachdem Emma es ausspricht, dass sie keine richtige Familie mehr sind, werden sie von der Hexe verzaubert. Damit macht Safier sie auch äußerlich zu den Schatten ihrer selbst, die sie als Familie geworden sind. Die Jagd nach der Hexe ist der Überlebenskampf, den sie nur gemeinsam gewinnen können und er relativiert einerseits die vormals hochgeschaukelten familiären Problemchen, außerdem wachsen alle dadurch über sich hinaus.

Auf der humoristischen Ebene läuft Safier zu gewohnter Höchstform auf:
„Emma: ‚Mir war es schon immer schleierhaft gewesen, warum einige Teenager in der Pubertät anfingen, Gras zu rauchen. Eigentlich müssten das doch die Eltern tun, um diese Phase des Lebens durchzustehen.‘“

Angesichts der immer wieder drohenden Gefahr, dass die Familie unrettbar auseinanderbricht, mischt sich dazwischen beim Lesen aber auch immer wieder ein Gefühl von Traurigkeit, gerade in den Momenten, wenn Emma befürchtet, den Schlüssel zu den Herzen ihrer Familie nicht mehr zu finden.

Insofern liegen hier absurder Humor und drohende Familientragödie eng beieinander.
Was Happy Family jedoch stilistisch ganz besonders auszeichnet, ist die Erzählerhaltung: Safier verzichtet auf eine Monoperspektive und erzählt abwechselnd aus Sicht aller Familienmitglieder. Dadurch wird deutlich, wie sehr die vormals familiären Querelen auf dem jeweiligen Beharren des eigenen Standpunktes beruhen. Je mehr sich alle Familienmitglieder mit der Zeit davon lösen und versuchen, den jeweils anderen Standpunkt zu verstehen, desto mehr nähern sie sich ihrer Rettung, nicht als Monster zu enden: „Emma: ‚Auch wenn die Lage hoffnungslos war, wir uns nicht retten konnten und bald sterben würden, war es doch nicht zu spät, meine Familie endlich richtig zu sehen. Nicht in dem Licht des Alltags, des Frustes und der Überforderung. Sondern im Lichte ihrer Möglichkeiten. So schaute ich sie mir alle an. Zum ersten Mal mit anderen Augen.‘“

Happy Family ist Safiers groteske und witzig-schräge Abhandlung eines wichtigen Themas; wie man die Liebe zur eigenen Familie über die Wirrnisse des Alltags rettet Eine vergnügliche Monstertragödie, die dem Leser durch die verschiedenen Erzählperspektiven die Augen öffnet.

David Safier: Happy Family
Roman Kindler
Hardcover, 320 S.
2011
18,95 €
ISBN 978-3-463-40618-3


Genre: Romane
Illustrated by Kindler bei Rowohlt Reinbek

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Die Poesie der irrsinnigen Liebe
Daniela Krien erzählt in ihrem Romandebüt von einer Liebesgewalt zur Wendezeit.
Wir schreiben das Jahr 1990, ein heißer Sommer irgendwo im Osten. Die DDR ist Vergangenheit, die Vereinigung steht kurz bevor. Die Ich-Erzählerin Maria ist sechzehn und wohnt mit Johannes auf dem Bauernhof seiner Eltern, dem Brendel-Hof. Sie schwänzt die Schule und verkriecht sich lieber mit den „Brüdern Karamasow“ in ihr Spinnenzimmer. Gleichzeitig möchte sie von Johannes‘ Familie angenommen werden, schaut ihnen zunächst dabei zu, wie sie Vieh, Haus und Hof bewirtschaften, Gemüse anbauen, in der Küche schaffen und bringt sich zunehmend helfend im Hofalltag ein.

Auf dem benachbarten Hof lebt der vierzigjährige Henner allein. Ein komischer Kauz, den die Leute aus dem Dorf misstrauisch beargwöhnen, weil er trinkt, manchmal in die Stadt fährt und Bücher liest. Die unbeschwerte Landidylle ändert sich schlagartig, als Henner und Maria, die sich gegenseitig magisch anziehen, in einem wollüstigen Gewaltakt das erste Mal übereinander herfallen. Während ihr nichtsahnender Freund Johannes die Welt fast nur noch durch den Sucher seiner neuen analogen Kamera sieht und davon träumt, an der Kunstakademie Fotografie zu studieren lebt Maria ihre erotische Obsession zu dem viel älteren Henner mit einer Wucht der Leidenschaft aus, in der Lust und Schmerz nahe beieinander liegen. Immer mehr wird sie von der Macht des schieren Begehrens nach der Liebesgewalt beherrscht, die nur Henner ihr geben kann. „Sein Wollen hatte etwas Tierisches, Unberechenbares, etwas, das mich an Dinge erinnerte, die lange vor meiner Zeit Geschehen sind.“ Da steuern Zwei auf ihr unentrinnbares Schicksal zu, das aufgrund des libidinösen Wahnsinns beider eigentlich nur in der Katastrophe enden kann. Heimlich still und leise wird zudem in Rückblenden mehr und mehr Henners Vergangenheit deutlich, die ihn zu dem gebrochenen Menschen gemacht haben, der er ist. Was die beiden außerdem verbindet, ist ihre Liebe zur Literatur, die in ihrer intellektuellen Haltung jedoch der Körperlichkeit nachgeordnet ist.

Die heimlichen Treffen mit Henner wechseln sich ab mit Szenen, die poetisch einen Mikrokosmos des Landlebens im Osten ausbreiten. Die Beschreibung des Dorfes und der Höfe, der Räume darin, sowie des Mobiliars, dem alten Küchenofen, dem großen Esstisch und dem wuchtigen Küchenbuffet atmen die Nostalgie einer stehengebliebenen Zeit. Das ursprüngliche Kochen auf dem Hof, das Maria sich selbst mehr und mehr aneignet und detailliert beschreibt, sowie ausgedehnte Szenen der gemeinsamen Mahlzeiten bis zu Momentaufnahmen der Bewirtschaftung des Brendel-Hofs spiegeln dabei den Rhythmus des Landlebens im Osten, das auf eine wunderbare Art und Weise antiquiert wirkt, so dass man sich als Leser fragt, ob die Figuren des Romans sich eigentlich darüber im Klaren sind, was sie durch die Vereinigung verlieren. Johannes‘ Eltern sind pragmatische, anpackende Menschen, die sich eher Gedanken darüber machen, wie sie ihren Hof umstrukturieren können, um im neu gewonnenen Kapitalismus als biodynamischer Demeterhof zu überleben. Was sie an Freiheit gewinnen wird durch den Knecht des Brendel-Hofs Alfred deutlich, der Maria bespitzelt und eine Atmosphäre diffuser Furcht schafft. Ein Verweis auf die Stasi in der DDR, mit deren Existenz auch Henners Schicksal eng zusammenhängt.

Sprachlich amorph und in einer auf das Wesentlich reduzierten Sprache, wird die antiquierte bäuerliche Welt zum Greifen nah spürbar, die Gerüche erlebbar und die Landschaft mit Dörfern, Höfen, Maisfeldern, Weiden und Wäldern vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar. Maria wird meist distanziert in der dritten Person von den anderen Familienmitgliedern angesprochen. Die Zusammenkünfte der beiden Liebenden werden nie explizit geschildert, sondern behutsam und zart angedeutet. Die Triebhaftigkeit ihrer Wollust kippt deshalb nie ins obszön-vulgäre sondern bleibt auf einer Ebene poetischer Sanftheit, die erotische Obsession wirkt so sinnlich, dass einem dagegen Johannes in seiner langweiligen Sexualität leid tut.

Das tragische Ende der Liaison begründet Krien im Gespräch: „Die Obsession ihrer Leidenschaft sollte und konnte nicht ins Alltägliche übergehen. Sie treffen sich auf eine absolute, eine kräftezehrende und auch zerstörerische Weise, wie sie höchstens einmal im Leben vorkommt und wie kein Mensch sie über längere Zeit aushalten würde.“ In dem Moment, in dem Maria dazu bereit ist, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen und dauerhaft mit Henner zu leben, erkennt der genau dieses Dilemma und handelt konsequent bis zum bitteren Ende..

Die 1975 geborene Daniela Krien legt mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ein fulminantes Romandebüt vor, dessen Thema der amour fou durch ihre kraftvolle und zärtliche Sprache für den Leser sinnlich erlebbar wird, der Mikrokosmos des Landlebens vibrierend spürbar. An einer Stelle resümiert Maria die Zeit mit Henner: „Noch nie habe ich so wenig gebraucht und so sehr mir selbst genügt wie an den Tagen mit ihm. Essen, schlafen, lieben, lesen, arbeiten. Mehr ist es nicht. Und es ist doch alles.“
Zum Lesen wünscht man ihr viele weitere Romane von Daniela Krien.


Genre: Romane
Illustrated by Graf-Verlag München

Versteh mich nicht falsch! Gesten weltweit. Das Handbuch

Jeder, der schon mal unvorsichtigerweise in einer sizilianischen Eisdiele „drei Kugeln“ bestellt hat, kenn das Verständigungsproblem zwischen verschiedenen Kulturen. Das setzt sich im abstrakten Bereich der Gestik fort, weil die noch viel mehr von den regionalen Übereinkünften abhängt.

Diese Verschiedenheit des gestischen Ausdrucks erklären die Autorinnen Julia Grosse und Judith Reker in „Versteh mich nicht falsch! – Gesten weltweit. Das Handbuch“ auf hervorragend anschauliche, bebilderte und gut kommentierte Art und Weise. Es ist doch sehr hilfreich zu wissen, dass das erhobene „V“ von Mittel- und Zeigefinger, das bei uns sowohl je nach Situation als „Sieg“ (Ackermann, Deutsche Bank) oder „Peace“ (Friedensbewegung) gedeutet wird, in Australien als doppelter „Stinkefinger“ gewertet wird. Insofern ist das Handbuch für alle Globetrotter und Jet-Setter unbedingt zu empfehlen. Darüber hinaus gibt es außerdem interessante Hinweise auf die gestische Emythologie und globale Verbreitung, wie zum Beispiel, dass das „L“ von Daumen und Zeigefinger gebildet, für „Looser“= Versager steht und durch Jim Carrey 1994 im US-Film „Ace Ventura“ international bekannt gemacht wurde. Ein unterhaltsames Buch, überaus nützlich für die produktive Verständigung zwischen den Kulturen und eine gute Investition in die eigene Gesundheit, damit man vorher weiß, welche Geste man besser wo unterlässt, um nicht anschließend eins auf die Nase zu bekommen. Von ihrem Arzt, Apotheker und von mir daher dringend zur Lektüre empfohlen!


Genre: Ratgeber
Illustrated by Bierke