Robinsons Überlegungen angesichts einer Kiste Stockfisch

Als Manuel Vazquez Montalban 2003 unerwartet starb, hinterließ er nicht nur die in Deutschland recht bekannte Reihe von Kriminalgeschichten rund um den katalanischen Privatdetektiv Pepe Carvallo. Sein Oeuvre ist geradezu ausufernd. Es umfasst Romane, Kurgeschichten, Erzählungen, Essays und politische Kommentare. Davon sind in Deutschland seine wichtigsten Romane und Geschichten übersetzt und bekannt. Vieles aber gilt es noch zu entdecken. Dafür bedarf es der Entscheidung seiner deutschen Verlage, Wagenbach und Piper, diese auch dem deutschen Publikum bekannt zu machen.

Immerhin hat nun der Wagenbach-Verlag eine der schönsten Geschichten von Vazquez Montalban wieder auf den Markt gebracht. Das Buch, von dem hier die Rede ist, erschien erstmals 1997 in deutscher Sprache (in der wunderschönen SALTO-Reihe des Wagenbach Verlages), war nach nicht allzulanger Zeit ausverkauft und bis vor kurzem nur noch antiquarisch zu bekommen. Wie dem auch sei. Seien wir froh darüber, dass wir es nun an dieser Stelle wärmstens der geneigten Leserin und dem neugierigen Leser empfehlen können, denn sie können dieses Buch wieder in Ihrer Buchhandlung bekommen.

Die Erzählung führt uns einen »Weihbischof im Wartestand«, wie der Autor so schön formuliert, vor Augen. Und dieser Ex-Geistliche findet sich selbst in eine mehr als unangenehme Situation versetzt, nämlich in die Rolle des Robinson, des Schiffbrüchigen. Kein »Freitag« ist weit und breit zu finden und auch die praktischen Kenntnisse, mittels derer sich auf einer einsamen Insel das Überleben organisieren ließe, fehlen dem Segelbootbegeisterten Ex-Bischof. Das macht die Situation für ihn kompliziert, für den Leser umso interessanter. Wenn dem Schiffbrüchigen auch technische Kenntnisse fehlen, so ist doch seine kulinarische und literarische Bildung umso profunder. Und nichts animiert das kulinarische Gedächtnis so sehr, wie eine solche Situation: gestrandet, Durst, Hunger und kein Restaurant in Sicht. Noch nicht einmal Notproviant ist vorhanden. Was sich derweil am Horizont abzeichnet, ist eine im Meer treibende, sich der Insel nähernde Kiste Stockfisch. Und nun wird man lesend staunen, was dem gestrandeten Genießer so alles in das Gedächtnis kommt angesichts dieser Kiste Stockfisch.

Manuel Vazquez Montalban präsentiert mit dieser Geschichte eines seiner unterhaltsamsten Werke. Lesefreude pur.


Genre: Romane
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Maria, ihm schmeckt´s nicht

Italien ist spätestens seit Goethes »Italienische Reise« in Deutschland nicht nur literarisch ein Dauerbrenner. Nichts ist verkaufsfördernder in unseren Gefilden, als ein wenig »Italianitá«. Wer bestellt schon gerne »Kalbsrouladen«, wenn »Involtini di manzo« im Angebot sind. Und wehe dem Gastwirt, der ein Rehgoulasch als das bezeichnet was es ist, Goulasch eben, und nicht mindestens ein »Sugo vom Reh« daraus macht. Auch ein Neuwagen aus Wolfsburg, München, Ingolstadt oder sonst woher, verkauft sich einfach besser, wenn er vor der Kulisse von Amalfi fotografiert wurde statt vor einem Sonnenuntergang in der Lüneburger Heide.

Aber gerade weil das so ist, geht man natürlich erst einmal ein wenig auf Distanz, wird einem ein Buch angeboten, dass so viel italienischen »Lifestile« schon im Titel führt: »Maria« lautet unweigerlich das erste Wort. Dabei geht es nicht nur um italienische Frauen, sondern gleich um eine ganze Sippe. Vor dem geistigen Auge der Leserin und des Lesers spielen sich Szenen von rauschenden italienischen Festen ab, von wahren Pasta-Orgien, singenden Gondoliere und viel Herzschmerz, Vino, Urlaub, Robert de Niro, Al Pacino …

Um eines vorweg zu nehmen: Die Skepsis ist ganz und gar ungerechtfertigt. Die Geschichten in diesem Buch werden uns vom Autor in der Ich-Form erzählt. So sehr dieses Buch auch ein Roman ist, uns also in Geschichten entführt, die sich zumindest nicht eins zu eins so ereignet haben, so sehr spürt man doch beim Lesen das, was Jan Weiler in seinem Vorwort schreibt: »Es ist ein Roman über die Wirklichkeit (…)«.

Das Buch beginnt (wie sonst sollte ein Deutscher Aufnahme in eine italienische Sippe finden) vor der Tür des potentiellen Schwiegervaters seiner Angebeteten. Mit Blumen bewaffnet und bar jeder Vorstellung von dem, was ihn auf den folgenden über 260 Seiten erwartet, klopft er an die Tür eines Reihenhauses am Niederrhein. Der Papa jener Familie, in die er einzuheiraten gedenkt, gehört zur ersten »Gastarbeiter«-Generation, wie die Hunderttausende von Menschen, die Anfang der 60er Jahre in die Bundesrepublik zur (Hilfs-)Arbeit angeworben wurden, so merkwürdig verharmlosend-ablehnend genannt wurden. Im Moment, in dem unser »Held« die Schwelle des Hauses der Familie Marcipane überschritten hat, ändert sich viel für ihn. Er durchlebt auf den folgenden Seiten nicht mehr und nicht weniger als eine Transformation vom »Fremden« zum »Schwiegersohn«, oder wie sein Schwiegervater Antonio (wie sollte er auch sonst heißen!) ausruft: »Meine Sohn, ich habe eine Sohn! Wirste du sehen, du haste einhe neue Vater. Dasse muss gefeierte werde. Ursula, habbe wir Spumante?«

Klar, dass nach der Hochzeit die nicht kleine Zahl von Verwandten in Süditalien besucht werden muss. Und hier vollzieht sich dann vollends die Eingemeindung des deutschen Schwiegersohnes in eine ihm fremde Kultur. Diese Kultur lernt er ebenso schnell lieben, wie er einzelne aber unverzichtbare Teile davon fürchtet. Vor allem, wenn ihm die Fürsorglichkeit der italienischen Mama in Bezug auf ausreichende Ernährung zuteil wird:
»Möchtest du noch von dem Schinken?«
»Nein danke. Ich bin satt.«
»Es schmeckt dir nicht.«
»Doch, doch, es war toll, aber ich kann nicht mehr. Wirklich.«
»Maria, ihm schmeckt´s nicht.«
»Doch, doch, es schmeckt vorzüglich.«
»Na, danniss doch noch was.«
«Gut, ich, äh, esse vielleicht noch etwas Käse.«
»Na also. Und eine bistecca?«
»Um Himmels willen, nein danke. Ich kann nicht mehr.«
»schmeckt´s nicht?« (…)

So realitätstauglich dieser Dialog ist, so schön diese nicht wenigen witzigen Erlebnisse auch erzählt werden, so wenig lässt es Jan Weiler damit bewenden. Sein Buch handelt nicht nur von den für helles Auflachen und Schenkelklopfen geeigneten Momenten des italienisch-deutschen Verhältnisses. In einem Kapitel reist der »liebe Jung« mit seinem Schwiegerpapa Antonio allein nach Italia. Dort erzählt ihm Antonio die Geschichte seines Lebens, von den Bubenstreichen in Campobasso, der Fremdheit als Sproß eines zugereisten Sizilianers, seiner Sehnsucht nach Amerika, die ihn allerdings statt nach New York lediglich bis an den Niederrhein führte. Und dieses Kapitel ist es, das aus der Sammlung schöner, lustiger, herzlicher und teilweise skurriler Geschichten ein Buch macht, das mehr ist, als die flott geschriebene Befriedigung deutscher Sicht auf italienische Marotten oder sentimentaler italienischer Selbstbeschreibung des Lebens in der Emigration.

Jan Weiler war von 2000 — 2005 Chefredakteur des Magazins der »Süddeutschen Zeitung«. Seine Frau ist tatsächlich Italienerin. Mit ihr und zwei Kindern lebt er heute als freier Schriftsteller in der Nähe von München, der sicherlich italienischsten Stadt Deutschlands. Ob sein Schwiegerpapa Antonio heißt, wissen wir nicht — das ist aber auch nicht so wichtig. Dieses Buch ist eine Wohltat in jeder Beziehung. Zunächst einmal ist dies ganz körperlich gemeint: Die Lektüre ist Intensivtraining für das Zwerchfell. Es sollte nicht im Bett gelesen werden — zumindest dann nicht, wenn der Partner oder die Partnerin schon zu schlafen gedenkt. Sie werden ihn oder sie ständig durch lautes Gewiehere wecken. Zum anderen sind die Geschichten eine sprachliche Wohltat, weil sie flüssig geschrieben aber beileibe nicht banal sind. Und schließich tut das Buch auch deswegen gut, weil es ganz grundsätzlich Lust macht, weiterzulesen.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Ullstein Berlin

Andrea Camilleri, Mein Leben

Er hat weltweit Millionen begeisterte Leserinnen und Leser. Seine Romanfigur, der sowohl kriminalistisch wie kulinarisch begabte Kommissar Salvo Montalbano, ist mittlerweile fast Kult. Dass sein Schöpfer diesem sizilianischen Quadratschädel zugleich einiges an Spitzbübigkeit mitgab, hat vielleicht zu dem in der Welt der Literatur einmaligen Ereignis geführt, dass eine Romanfigur seinen Schöpfer anruft, um ihm die Kündigung anzudrohen. Wir sprechen natürlich von Andrea Camilleri. Als dieser an eine Erzählung arbeitete, die »ein bisschen à la Hannibal Lector« sein sollte, verhält sich Montalbano, »der in dieser Geschichte ermittelt, an einem bestimmten Punkt wie folgt: Anstatt pflichtgemäß die Pistole zu zücken, macht er kehrt, fährt zu einer Telefonzelle und ruft einen alten Herrn in Rom an, der zu nächtlicher Stunde Geschichten schreibt: `Hör zu Camilleri, wenn du weiterhin ein solches Zeug schreiben willst, dann mach es, aber ich will damit nichts zu tun haben.´ Und Montalbano weigert sich, die Ermittlungen fortzusetzen.«

Camilleri erzählt diese Episode dem Journalisten Saverio Lodato, der aus einer Reihe langer und intensiver Gespräche mit dem sizilianischen Autor dessen Leben mehr dokumentiert, als dass er es schildert. Lodato hatte 2001 den Auftrag für die kommunistische Tageszeitung »L´Unita« ein Interview mit Camilleri über dessen Auffassungen zur sizilianischen Mafia zu führen. Nach dem Interview entwickelte sich ein umfangreicher Dialog zwischen den beiden. In mehreren Gesprächen erzählte der zur Zeit wohl erfolgreichste und bekannteste italienische Autor Lodato Episoden aus seinem Leben. Und glücklicherweise erkennt Lodato die besondere Qualität des Erzählens. Er beschließt, aus diesem Material keinen eigenen Text zu erstellen, sondern diese Gespräche zu dokumentieren. »(…) Camilleris ungetrübten Erzählduktus zu bewahren, und (habe) mich darauf beschränkt, ein sehr weit reichendes Themenmaterial auf einige simple Leitfäden für die Marschrichtung einzustellen. Ich wollte, daß der Leser auf gewisse Weise die `Stimme´ Andrea Camilleris genauso hört, wie ich sie vernommen habe«, schreibt er in seinem Vorwort. Ein größeres Geschenk hätte er seinen Lesern nicht machen können. Camilleri ist — seine Fans wissen es — ein ausgezeichneter Erzähler. Beim Lesen dieses Buches schleicht sich Neid ein. Gerne würde man ihn nicht nur lesen, sondern ihm auch zuhören dürfen.

»Andrea Camilleri, Mein Leben« ist eine Sammlung von Geschichten, die vom Beginn des Faschismus in Italien bis zur Hybris der Berlusconi-Jahre reichen. Es ist kein im eigentlichen Sinne politisches Buch. Die erste Hälfte handelt vor allem von Camilleris Kindheit und Jugendzeit. Hier schildert er aus dem Leben seines Vaters, er berichtet von der Faszination des Meeres. Beides entfaltet bis heute eine große Wirkung auf Camilleri. Geruch und Geschmack der Kindheit werden lesend lebendig und machen nicht nur im übertragenen Sinne Appetit auf die folgenden Kapitel seines Lebens.

Camilleri erzählt natürlich auch von seiner Arbeit. Wir erfahren, dass die Piazza von Porto Empedocle, seinem Heimatort, die Geburtsstadt der fiktiven Romanstadt Vigata ist. Wir hören tatsächlich, lesend, vielen Geschichten zu. Keine ist zu klein, um sie auszulassen, nicht eine ist unwichtig im Zusammenhang des langen Lebens, das Camilleri schon hat leben dürfen. Andrea Camilleri wurde 1925 geboren. Mehr als sein halbes Leben lang hat er in der italienischen Filmindustrie gearbeitet, war Regisseur, Drehbuchautor. Schriftsteller ist er erst im Herbst seines Lebens geworden. Die Gespräche in Lodatos Buch zeigen, wie gut die Reife des Lebens seiner Literatur getan hat.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Piper Malik Kabel München