Die Niederlande im 17. Jahrhundert: Die junge Nella Oortman wächst in tiefster holländischer Provinz auf, ihre Familie hat neben einem guten Namen nicht mehr viel zu bieten. Wie damals üblich, geht sie eine arrangierte Ehe ein, ihren Gatten kennt sie vorher nicht. Drahtzieher sind ihre Mutter und ihre zukünftige Schwägerin. Ihr Gatte Johannes ist ein reicher Kaufmann aus dem prosperierenden Amsterdam, ihn lernt sie erst bei einer schmucklosen Trau-Zeremonie in ihrem Heimatort Assendelft kennen und das auch nur kurz, weil wichtige Geschäfte ihn schnell fortrufen. Nella tritt die Reise in ihr neues Zuhause, ein altehrwürdiges Amsterdamer Kaufmannshaus alleine an.
Von der für sie ungewohnten Stadt ist Nella zunächst überfordert, noch schlimmer aber ist für sie der frostige Empfang im Haus ihres weiterhin durch Abwesenheit glänzenden Gatten. Ihre Schwägerin Marin begegnet ihr mit Hochmut und eisiger Distanz, sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihren Platz als Herrin des Hauses nicht räumen wird. Die Dienerschaft ist für Nella ungewohnt aufmüpfig, fremd und exotisch zugleich ist für sie Otto, der Diener ihres Mannes, ein ehemaliger Sklave.
Ihre Welt ändert sich, als Johannes ihr sein außergewöhnliches Hochzeitsgeschenk präsentiert: ein schrankgroßes Puppenhaus, eine exakte Replik ihres neuen Zuhause. Nella will wenigstens dieses mit Leben füllen und greift auf die Dienste einer Miniaturistin zurück. Die winzigen Kreationen der schwer fassbaren und rätselhaften Künstlerin spiegeln ihre echten Vorbilder in unheimlicher und unerwarteter Weise. Zunächst machen jagen die Geschöpfe der Miniaturistin ihr Angst ein, enthüllen ihre winzigen kleinen Dinge und Puppen doch die ungewöhnlichen Geheimnisse ihrer auf den ersten so frommen neuen Familie. Schon bald jedoch betrachtet sie die Miniaturistin geradezu als Prophetin und fiebert ihren versteckten Hinweisen und Ratschlägen entgegen. Die Frage, ob diese Frau eher der Schlüssel zu ihrer Rettung oder doch die Archtitektin ihrer Zerstörung ist, verdrängt sie zunächst. Es dauert nicht lange und das Unheil bricht über das Kaufmannshaus hinein. Nella jedoch wächst mit den Schwierigkeiten und letztlich ist sie es, die denen, die das Unheil überleben, mit ungewohnter Stärke neue Zuversicht gibt
Die Britin Jessie Burton hat mit “die Magie der kleinen Dinge” einen ungewöhnlichen Debütroman geschrieben. Als Theater-Schauspielerin hatte sie wenig Erfolg und besann sich auf ihre Liebe zum Schreiben, eine Leidenschaft aus früher Kindheit. Die Fan-Gemeinde kenntnisreich geschriebener Historien-Romane wird es freuen. Inspiration für ihren Roman war ein antikes Puppenhaus, welches als Exponat im Amsterdamer Rijksmuseum zu bewundern ist. Auch Nella Oortman hat es wirklich gegeben, das von Jessie Burton beschriebene Geschehen haben wir allerdings ihrer Phantasie zu verdanken.
Die große Stärke der Autorin ist das atmosphärische Erzählen. Sie schreibt nicht nur über “die Magie der kleinen Dinge”, sie erschafft sie auch. Die Handlung des Romans ist überschaubar, das Erzähltempo ist auch eher gemächlich. Man fragt sich unwillkürlich, woran es dann liegt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Die Antwort liegt wohl vor allem im Flair dieses Buches, in der Welt, die Jessie Burton erschafft, bzw. wiederauferstehen lässt. Es ist, als ob all die Porträts, die man aus dieser Zeit kennt, diese ernst und humorlos dreinblickenden Menschen in dunkler Kleidung mit ihren gestärkten weißen Halskrausen und Hauben zum Leben erwachen. Die Autorin nimmt uns mit in eine Welt, so fern der heutigen – grausam und doch verlockend ob der klar aufgestellten Regeln, anziehend und abstoßend zugleich.
Spannend und sehr interessant ist daneben der Blick auf eine weitere Hauptdarstellerin: die Stadt Amsterdam. Der Roman zeigt Amsterdam auf dem Höhepunkt seiner frühen Blütezeit, die Stadt breitet sich immer weiter aus, “baut immer höher, obwohl durchaus die Möglichkeit besteht, dass alle im Morast versinken”. Die Stadt wird beherrscht von einer Melange aus Geld und Scham, man lebt eine Kultur des Widerspruchs. Die Liebe zu glltzerndem Reichtum und das Streben nach Wohlstand kollidieren allüberall mit der Furcht vor Todsünden, gepredigt wird gottesfürchtige Enthaltsamkeit – Bigotterie in Reinkultur. Keiner in dieser Stadt kann sich jemals sicher fühlen, die Fassade der Stadt wird dank gegenseitiger Überwachung aufrechterhalten. Die “in Wasser geschriebenen Regeln” der Stadt und ihrer Bewohner ersticken die Seele der Menschen.
Wer heute die großen, so stark multikulturell geprägten Städte Hollands kennt, kommt selten auf den Gedanken, dass die Geschichte der Niederlande sehr lange nicht so bunt und tolerant war wie heute. Und auch heute noch kann man die Strenge bedrückender Religion gerade hinter den Fassaden der ländlichen, sehr calvinistisch geprägten niederländlichen Provinzen finden. Die akribisch recherchierte “Magie der kleinen Dinge” sorgt da durchaus für ein besseres Verständnis des historischen Zusammenhangs.
Auch Nellas Ehemann Johannes und seine Schwester Marin verbringen ihr Leben in einem “unsichtbaren Käfig, dessen Gitterstäbe aus tödlicher Heuchelei bestehen”, Am Ende werden sie von der Stadt, die vor allem Johannes und seinem kaufmännischen Geschick so viel verdankt, verraten.. Wie es mit Nella und den ihr Anvertrauten weitergeht, bleibt offen. Gewagt für einen Debütroman, aber schlussendlich folgerichtig, Der Leser bleibt in dieser durchgehend im Präsens geschriebenen Geschichte immer auf dem Kenntnisstand von Nella, nie ist er ihr voraus. Und wer weiß – vielleicht gibt es ja ein Wiederlesen?
Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift