Literarische Wimmelbilder
Auf den ersten Blick scheint die Novelle «Natura morta» des österreichischen Schriftstellers Josef Winkler ein Paradebeispiel zu sein für eine narrative Methode, bei der das signifikant Insignifikante im Vordergrund steht, mithin stilprägend ist. Dieses kleine Büchlein ist insoweit ein Triumph der Sprache und Form, als eine Handlung nur rudimentär vorhanden ist und scheinbar auch nur als Gerüst für eine minutiöse, detailversessene Beschreibungskunst dient. Kann eine Lektüre, die sich litaneiartig im Nebensächlichen verliert und die jene, laut Goethes Definition, sich «ereignende unerhörte Begebenheit» damit fast schon marginalisiert, trotzdem lohnenswert sein? Aber sicher doch, denn hier wird nicht nur der Tod thematisiert, was ja immer löblich ist, sondern auch und dominant der damit einsetzende Verwesungsprozess mit all den unappetitlichen Begleiterscheinungen!
«Ein Macellaio … brach den bereits mit einem Hackbeil gespaltenen, enthäuteten Kopf eines Schafs auseinander, nahm das Gehirn aus dem Schädel und legte die beiden Gehirnteile sorgfältig nebeneinander auf ein rosarotes Fettpapier mit Wasserzeichen. Im silberglänzenden, rechten Augenhöhlenknochen – die herausgeschälten Augäpfel lagen auf einem Fleischabfallhaufen – lief eine violett schimmernde Fliege». Zugegeben, blutige Schlachterei ist nicht gerade ein erfreuliches Thema, auch wenn sie wie hier ganz selbstverständlich eingebettet ist in das pralle Marktleben auf der Piazza Vittorio Emanuele in Rom. Was als postmortales Phänomen das ekelerregende Treiben dort begleitet und uns geradezu brutal überfällt in dieser Novelle, das verdrängen wir normalerweise am liebsten. Und dabei hilft uns dann, womit ein zweiter Erzählraum dieser Novelle geöffnet wird, die Kirche, in der Heiligen Stadt natürlich die katholische. Denn mit ebensolchem Scharfblick wird die sonntäglich auf dem Petersplatz vor dem Vatikan herumlungernde Menschenmenge beschrieben. Unwillkürlich erinnert mich die immense erzählerische Detailfülle an Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren, dessen berühmte allegorische Wimmelbilder mit dutzenden Einzelszenen und hunderten von Figuren hier in eine vergleichbar groteske literarische Form gegossen sind. Auch in dieser morbiden Novelle sind nämlich die Figuren äußerst derb gezeichnet, körperlich gehandikapte oder bös verunstaltete, in Lumpen gehüllte, hässliche, abstoßende Kreaturen, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, um irgendwann elend zu verrecken.
Als Piccoletto, der sechzehnjährige Sohn der Feigenverkäuferin, bei einem Verkehrsunfall stirbt, schließt sich thematisch der Kreis. Auf den Menschen wartet das gleiche Schicksal, von dem auch all die auf dem Markt feilgebotenen blutigen Körperteile und glitschigen Innereien der geschlachteten Tiere künden. Mit beißendem Spott überzieht Josef Winkler in seinem narrativen Stillleben blasphemisch die katholische Kirche mit ihrem allgegenwärtigen Heiligenkitsch oder mit den verlogenen, die Absolution versprechenden Beichtvätern im Petersdom. Dessen Dresscode kann der unbotmäßige Besucher in kurzen Hosen praktischerweise gleich vor Ort durch Erwerb einer der überall marktschreierisch angebotenen Pantaloni lunghi erfüllen, für schlappe diecimila Lire. Der liebe Gott wird’s ihm danken!
Manche zunächst nicht recht zusammen passenden Handlungsfäden fügen sich am Ende schließlich doch zu einem Ganzen. Dabei nutzt der Autor auch die Trauerfeier und die Beisetzung von Piccoletto in einem Massengrab am Campo Verano zu bissigen Seitenhieben auf die katholische Kirche und stellt deren Scheinheiligkeit bloß. Bis an die Ekelgrenze werden in dieser gleichwohl stillen Novelle niedere menschliche Instinkte beschrieben. Die nachdenklich machende Geschichte verdeutlicht durch ihre karge Sprache auch sehr stimmig die profane Kreatürlichkeit des Menschen und weist ihm kategorisch seine so gar nicht privilegierte Stellung im evolutionären Prozess zu.
Fazit: lesenswert
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