Glückliches Polen
Die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarzuk hat 2007 ein Buch veröffentlicht, das in ihrer Heimat hoch gelobt wurde und zwei Jahre später dann unter dem Titel «Unrast» in deutscher Übersetzung erschien. Im Jahre 2018 wurde ihm schließlich der britische International Booker Prize verliehen. Die Resonanz in Deutschland war eher verhalten, und das Feuilleton war völlig uneins. Denn das als Roman veröffentlichte Buch entspricht kaum den Erwartungen an dieses literarische Genre, viele sehen darin eher eine Kurzgeschichten-Sammlung. Die Autorin selbst hat ihr Buch als «Konstellationsroman» bezeichnet, «eine genre-übergreifende Sammlung von Fiktion, Historie, Memoir und Essay». Und weiter: «Als ich es erstmals meinem Verlag geschickt habe, riefen sie mich zurück und fragten, ob ich vielleicht die Dateien in meinem Computer durcheinander gebracht hätte, denn das sei kein Roman». Wie auch immer! «Ein Roman wie dieser könnte niemals den Deutschen Buchpreis gewinnen», schrieb Ina Hartwig 2009 in der Frankfurter Rundschau. Und sie fügte hinzu: «Glückliches Polen, wo Bücher wie dieses mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet werden!» Wo sie recht hat, hat sie recht!
Im polnischen Original heißt das Buch «Bieguni», die Bezeichnung für eine orthodoxe jüdische Sekte, deren Mitglieder daran glaubten, in der ständigen Bewegung Gott näher zu sein. Neben vielen, manchmal nur eine halbe Seite umfassenden Notizen, Porträts, Glossen und Gedankensplittern der Ich-Erzählerin, neben zufälligen Beobachtungen, historischen oder mythologischen Randbemerkungen gibt es auch umfangreichere Geschichten. Da verschwindet zum Beispiel während eines Spaziergangs eine Frau spurlos mit ihrem Kleinkind. Die Suche der Polizei auf der kleinen, kroatischen Insel ist vergebens. Als sie drei Tage später wieder auftaucht, bleibt sie ihrem Mann jede Antwort schuldig, wo sie gewesen ist, – ihre Ehe zerbricht daraufhin. Ein ehemaliger Walfänger, der als Kapitän auf einer Fähre frustriert täglich mehrmals immer die gleiche Strecke fahren muss, nimmt plötzlich Kurs aufs offene Meer. Was die Passagiere zunächst ziemlich irritiert, aber ihr Protest schlägt schnell in Zufriedenheit um, alle finden den neuen Kurs prima. Auch die Mutter eines behinderten Kindes verlässt ohne ein Wort die Familie, streift ziellos durch Moskau, kampiert in der Metro und teilt das Leben der Obdachlosen. Wie lange, bleibt offen!
Erzählt wird auch von einem Altertums-Wissenschaftler, der auf einem Kreuzfahrtschiff Vorträge für die Passagiere hält. Berichtet wird zudem von Reise-Psychologen, die einem zufälligen, ständig wechselnden Publikum im Wartebereich eines Flughafens Vorträge halten über ihr Fachgebiet. Ein längerer Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Thema Plastination und der Konservierung von Leichen. Dazu gehören dann auch mehrere ausführliche Briefe der Tochter des Kammer-Mohren am Hofe des Kaisers Franz III, die hartnäckig darum bittet, ihr die im Museum ausgestellte, mumifizierte Leiche ihres Vaters für eine christliche Bestattung zu überlassen. Und die Schwester von Frédéric Chopin schließlich, die ihren berühmten Bruder innig geliebt hat, begleitet sein Herz auf eine letzte Reise in die Heimat. Sogar ein Loblied auf die überaus wichtige Funktion von Wikipedia fehlt nicht in den lose verknüpften, literarischen Miniaturen, die dieses geradezu nomadisierende Buch prägen.
In seiner Intention ist «Unrast» eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten, spätkapitalistischen Welt. Das Unstete, die Reisesucht und Entfremdung kennzeichnen die zunehmende Entwurzelung des Menschen. Immer wieder weicht die zentrale Perspektive einer dezentralen, fragmentierten, auf Emphase seiner zumeist sympathischen Figuren setzenden Erzählweise. Stilistisch brillant und wortmächtig erzählt, ist dieses Buch eine kontemplativ außergewöhnlich anregende Lektüre.
Fazit: erstklassig
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