Amnesie statt Anästhesie
Der kryptische Titel «Zeitzuflucht» des neuen Romans von Georgi Gospodinov steht für eine kreative Thematik. Der Ich-Erzähler, ein bulgarischer Schriftsteller, hat sich einen Psychiater als Protagonisten erschaffen, den er Gaustin nennt, ein Zeitreisender, der durch die Jahrzehnte des 20ten Jahrhunderts flaniert. Mit seiner amüsanten Dekonstruktion nostalgischer Sehnsüchte desavouiert der Autor gekonnt den aktuellen politischen Rechtsruck in Europa, der alles andere als lustig ist. Nicht zuletzt deshalb, und für die literarisch exzellente Umsetzung des Stoffes, erhielt der Autor 2023 den International Booker Prize für fremdsprachige Erzählungen.
Die Figur des Gaustin hat sich im Roman quasi verselbständigt, der Autor und er arbeiten eng zusammen, diskutieren miteinander und vertreten sich gegenseitig. Bei der Behandlung von Demenzkranken ist Gaustin auf die Idee gekommen, den Patienten durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu helfen. Und zwar durch eine vertraute Umgebung, an die sie sich erinnern können und wo sie sich dann auch wieder zurechtfinden im Leben, immer nach dem Motto: «Amnesie statt Anästhesie!» Er baut in Zürich eine Klinik auf, in der in jedem Stockwerk ein anderes Jahrzehnt des 20ten Jahrhunderts detailgetreu wie im Museum rekonstruiert ist. Ein therapeutischer Ansatz, der sich als äußerst erfolgreich erweist und andernorts viele Nachahmer findet. Alle haben die Hoffnung, durch diesen Zeitenwechsel den Schrecken der Gegenwart entfliehen zu können, und schon bald verwandelt sich die Therapie in ein politisches Programm. In kürzester Zeit werden ganze Stadtviertel in ein vergangenes Jahrzehnt zurückversetzt, bald auch ganze Städte. Schließlich ist die Sehnsucht nach Vergangenheit so groß, dass einzelne Staaten und dann auch die gesamte EU sich in die Vergangenheit zurückversetzen wollen. In verschiedenen Ländern werden Referenden abgehalten, bei denen die Bevölkerung das vergangene Jahrzehnt wählen kann, in dem die Menschen künftig wieder leben wollen.
Mit nicht zu übersehendem Spott berichtet der Schriftsteller von den Diskussionen mit seinem Protagonisten Gaustin, der ziemlich entrückt das Geschehen aus der Ferne verfolgt und dann immer wieder mal für Jahre spurlos verschwunden ist. Genüsslich schildert Georgi Gospodinov das von ihm erdachte, aberwitzige Szenario, berichtet von seinen Erlebnissen in den verschiedenen Jahrzehnten, die er besucht. – Wohlgemerkt, man besucht nicht mehr Orte, sondern Zeiten! Und geschickt nutzt der Autor auch das entstandene Chaos zu vielfältigen Reflexionen über politische und historische Gegebenheiten, so wenn er gegen Schluss ausführlich über die Referenden in den einzelnen Staaten Europas berichtet. Dabei lässt er sich kenntnisreich und amüsant über dortige Animositäten, Befindlichkeiten und Sehnsüchte aus. All das ist eine kontemplative Tour d’Horizont auf nostalgischen Pfaden der europäischen Geschichte, prall gefüllt mit Anekdoten, Ereignissen, Wegmarken und Irrwegen. Konsequent lässt er die Menschen in diesem speziellen Setting alle historischen Stationen durchlaufen, auch Erster und Zweiter Weltkrieg nicht ausgeschlossen, er thematisiert die Balkankriege ebenso wie den Brexit oder Donald Trump. Besonders aber die ehemaligen Ostblockstaaten werden kritisch durchleuchtet in ihren Befindlichkeiten. Viel Raum nimmt dabei natürlich Bulgarien ein, das zwar mit Spott und Häme überzogen wird, letztendlich aber immer die Heimat des Autors bleibt, soviel Patriotismus sei ihm erlaubt!
Diesen Roman zu schreiben ist ein wahrhaft schwieriges Unterfangen mit vorhersehbaren Problemen gewesen, die der Autor aber souverän zu unterlaufen versteht mit allerlei literarischen Tricks. Zu denen gehört insbesondere die scheinbar eigenmächtig handelnde Figur des Gaustin, Spießgeselle des Autors. Es gibt dermaßen viele historische Verweise, literarische Bezüge und philosophische Thesen, dass der Leser über so manche surreale Konstellation hinweg liest oder das Fehlen von Realität partout nicht empfindet. Er schwebt vielmehr gedanklich in anderen Jahrzehnten, zumal wenn er zu den «älteren Semestern» zählt.
Fazit: erstklassig
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