Ein ungarischer Herbst

Ein ungarischer Herbst

Ungarn, Herbst 1956. Der Volksaufstand und seine blutige Niederschlagung durch Truppen der Sowjetarmee und der Warschauer-Pakt-Staaten. Gleichzeitig die Suezkrise, die militärischen Aktionen von Großbritannien, Frankreich und Israel gegen Ägypten. Der Weltfrieden in großer Gefahr, gerettet und erhalten nur durch die Interessensaufteilung und lnteressenspolitik der Großmächte, der beiden übriggebliebenen Großmächte vor allem – USA und UdSSR. Dazwischen das eigentlich wirkungslos bleibende, politische ,,Spiel“ einzelner Staaten, Staatsführer, Regierungen. Und die einzelnen Menschen, Handelnde und Leidende im Ereignisprozeß der Geschichte, zielbewußt oder orientierungslos, hoffnungsvoll oder verzweifelt, am Ende – wie immer – die Opfer; die sinnlosen Opfer. Marionetten, die zerbrochen werden, von der Macht, von den Kräften der Geschichte; ob sie nun Imre Nágy oder Eva heißen in diesem Roman, in dieser literarischen Konstruktion aus Fiktion und Wirklichkeit des jugoslawisch-serbischen Autors Ivan lvanji, der nun in Österreich lebt.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist einfach. Ein noch unerfahrener, jugoslawischer Sportjournalist fährt ein zweites Mal nach Ungarn, eigentlich nur, um seine Sommerliebe Eva wiederzusehen. Als der Volksaufstand losbricht, gerät auch er in den Strudel der Ereignisse, wird er mit entscheidenden politischen Fragen und Positionen konfrontiert, wird er zum Zeugen der Revolution beim Angriff der Aufständischen, aber auch ihrer Lynchjustiz an den Geheimdienstleuten als den Handlangern eines verbrecherischen Regimes. Und er wird zum Mitwisser und kleinen, aber wichtigen Mitakteur in diesem Drama der Weltpolitik, wenn auch nur für einen Augenblick, als er mit anderen jugoslawischen Journalistenkollegen eine wichtige Nachricht des ungarischen Kommunistenführers János Kádár an Marschall Tito weiterleitet, die später für dessen Geheimgespräch mit Chrustschow auf der Insel Brioni von Bedeutung und somit für die Zukunft Ungarns mitbestimmend ist. Für einen – für diesen -Augenblick tritt er aus der Anonymität seines Ich-Seins heraus in das Licht der Geschichte, der Weltgeschichte; so glaubt er, so fühlt er. Aber am Ende bleiben doch nur die offenen Fragen und der bittere Geschmack im Munde. Was war dieser Aufstand, diese Revolution? Und wer war Eva – dieses Mädchen, seine Sommerliebe, diese Aufständische, die sich am Ende erschießt?

Vierzig Jahre nach der Ungarnrevolution von 1956 und Ihrer Niederschlagung erzählt der Autor und Zeitzeuge Ivan lvanji diese Geschichte, fügt er Bild um Bild zu einem historischen Kaleidoskop zusammen, übermittelt er genau und sorgfältig recherchierte Fakten, erstellt er ein lebendiges Bild der Wirklichkeit. Die Frage nach der Wahrheit kann auch er nicht beantworten. Das kann niemand.

Ivan lvanji: Ein ungarischer Herbst. Roman. Picus Verlag, Wien, 1995, 234 Seiten, öS 298,–

Peter Paul Wiplinger
Wien, 7.11.1995


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Picus Verlag Wien

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