Die Frau ohne Eigenschaften
Die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger hat es mit ihrem Roman «Panischer Frühling» auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft, die bis dato bedeutendste Ehrung für sie. Als Autorin einem breiteren Lesepublikum bisher zumeist unbekannt, wirkt die Platzierung im Finale des Buchpreises wie ein Ritterschlag, der für sie als literarisch längst Anerkannte hauptsächlich finanzielle, sprich Auflage erhöhende Wirkung zeitigen dürfte. Der kurze Roman, mit verschwenderisch bemessenem Blattspiegel, üppiger Schriftgröße und satter Papierstärke vom Suhrkamp-Verlag trickreich zum knapp über 200 Seiten starken, ansehnlichen Buch aufgepeppt, wirkt von seinem Inhalt her ganz im Gegenteil eher bescheiden zurückhaltend mit seinen stillen Tönen.
Nach dem Ausbruch des Gletschervulkans auf Island mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull musste Mitte April 2010 der Flugverkehr in weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas eingestellt werden. Eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin hält sich während dieser Zeit vorübergehend in London auf, man erfährt im Übrigen nichts von ihren sonstigen Lebensumständen, «Die Frau ohne Eigenschaften» gewissermaßen. Dauernd unterwegs auf ziellosen Streifzügen durch die Stadt, trifft sie auf der London Bridge einen Mann, der dort eine Obdachlosenzeitung verkauft. Dieser zufälligen Begegnung folgen weitere, sie kehrt seltsam zwanghaft immer wieder dorthin zurück. Aus der anfangs kurzen Unterhaltung mit dem Zeitungsverkäufer, dessen halbes Gesicht von einem schlimmen Feuermal entstellt ist, werden mit der Zeit längere Gespräche, beide, deren Gemeinsamkeit der frühe Tod des Vaters ist, erzählen sich Geschichten aus ihrer Kindheit. Ihr Kontakt bleibt aber distanziert, es gibt keine weiteren Verbindungen zwischen ihnen außer den – lediglich durch das unangekündigte Erscheinen der Frau auf der Brücke – initiierten Begegnungen, lange kennt sie nicht mal seinen Namen. Bis Jonathan eines Tages spurlos verschwunden ist, sie trifft ihn mit seinem Zeitungsbündel nie mehr an auf seinem abgestammten Platze. Geradezu als kryptisch zu bezeichnen ist auch ihre Beziehung zur mutmaßlichen Tochter, über die es lapidar heißt: «Nachrichten vom Amazonas waren eingetroffen. Ich bin wirklich auf der anderen Seite der Welt, schrieb die junge Frau, das Kind von einst, immer mehr wird mir die Distanz bewusst, aber ich mag sie»! Mehr erfährt der Leser nicht, es gibt zusätzlich nur ein paar wenige und zudem noch deutlich kürzere Textstellen hierzu.
Gertrud Leutenegger benutzt für ihre assoziative Prosa einen sehr spezifischen Stil, der vermutlich zurückzuführen ist auf ihre Arbeit am Theater, findet sich doch auffallend häufig die Form des dramatischen Poems in ihrem Werkverzeichnis. Ihr meditativer Roman erinnert, nicht nur topografisch, an ein Kammerspiel durch seinen äußerst reduzierten erzählerischen Blickwinkel und seine lyrisch wirkende Sprache, die sehr bildhaft ist und zugleich durch große Sensibilität gekennzeichnet. Einen weiten Raum nehmen liebevolle Beschreibungen der großstädtischen Flora ein, ihre Protagonistin, in der manche die Autorin selbst zu erkennen glauben, besucht immerfort die Parks von London auf ihren Streifzügen durch die Stadt.
Ein nahezu handlungsloser Roman wie dieser ist von vornherein nicht jedermanns Sache, er wirft zudem durch seine nicht zu einem Ende hin führende, fragmentarische Erzählweise so viele Fragen auf, dass vielschichtiger Deutung und kühner Spekulation Tür und Tor geöffnet sind. Von dieser wahrscheinlich bewusst herbeigeführten Verwirrung der Leser zeugen offensichtliche Fehler in etlichen Inhaltsangaben bei deren Kritiken, ja sogar in solchen des Feuilletons. Wer Rätsel mag, wird hier also fündig, und wer gerne spintisiert, wer Anspielungen liebt, um selbst weiter zu fabulieren, kommt erst recht auf seine Kosten. Wer aber stringente Handlung sucht, der wird zutiefst enttäuscht sein. Fazit also: Wer’s mag!
Fazit: mäßig
Meine Website: http://ortaia.de