In seinem Tatsachenroman schildert Norbert Sahrhage einen Mord aus dem Jahre 1948. Kann ein Kriminalfall auch nach rund 70 Jahren den Leser bewegen? Die Lektüre beweist: Er kann.
Norbert Sahrhage ist als Lehrer im ostfälischen Bünde tätig und hat ein Händchen für historische Kriminalromane. Vier Titel aus seiner Feder sind inzwischen erschienen. »Der Mordfall Franziska Spiegel« ist wohl der spektakulärste, denn er berührt den Umgang mit unserer eigenen Geschichte.
Wenig Tage vor Kriegsende kommen zwei SS-Männer von Adolf Hitlers Leibstandarte in das Haus einer deutschen Arbeiterfamilie und verschleppen die Ehefrau. Sie weiß, was sie erwartet, denn sie ist Jüdin und hat es bislang geschafft, allen Deportationsversuchen zu entkommen. Der lokale NSDAP-Ortsgruppenleiter hat die junge Frau bei der SS verpfiffen, und die macht kurzen Prozess: In einem Waldstück wird Franziska Spiegel hinterrücks erschossen.
Die Einwohner des kleinen Ortes schauen weg. Die wenigen Zeugen werden von den Ortsgewaltigen nicht ernst genommen. Dem Ehemann wird erklärt, jeder Jude sei eine Eiterbeule am Körper des deutschen Volkes. Der Ermordeten wird sogar die Bestattung auf dem dörflichen Friedhof verwehrt, sie muss auf einem Acker verscharrt werden. Die Gestapo kassiert die Akten.
Vier Jahre später landet die Akte auf dem Tisch eines Bielefelder Kriminalbeamten. Der war selbst mit einer jüdischen Frau verheiratet, die allerdings rechtzeitig nach England floh und außerdem noch Sozialdemokrat. Das reichte dem Nazireich für ein Berufsverbot und so kann der Polizist erst drei Jahre nach Kriegsende wieder an seinen Schreibtisch zurück.
Er hat Glück mit seinen Ermittlungen und findet eine heiße Spur, so verschlossen ihm die Zeitzeugen auch begegnen. Doch dann wird einer der Tatverdächtigen plötzlich erschossen, und ein zweiter verschwindet spurlos von der Bildfläche. Hat die SS immer noch die Fäden in der Hand und verhindert die Aufarbeitung des Mordfalles?
Sahrhages Tatsachenroman behandelt einen realen Fall aus der unseligen Geschichte Deutschlands. Er zeigt damit auf, dass zumindest in der Bundesrepublik viele Schlüsselpositionen wieder von Altnazis besetzt wurden, die alles taten, sich selbst als unschuldige Opfer darzustellen und ihre grausamen Verbrechen zu vertuschen. So wurden auch die Ermittlungen im Fall der ermordeten jüdischen Frau eingestellt, ein kleiner Gedenkstein erinnert heute still an die Untat.
Der Autor hat den Fall sauber recherchiert. Er erzählt ihn sachlich-lakonisch, und doch spürt der Leser die Wut des fiktiven Kommissars, der stellvertretend für den Verfasser stehen mag, zwischen den Zeilen. Wer sich für echte Kriminalfälle aus der jüngeren deutschen Geschichte interessiert, wird mit »Der Mordfall Franziska Spiegel« gut bedient.
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Franziska Spiegel – Eine Erinnerung from Florian Anders on Vimeo.
Der Kurzfilm “Franziska Spiegel – Eine Erinnerung” (2005) zeigt auf einfühlsame Weise die wahre Geschichte der Franziska Spiegel (Sonja Kirchberger), einer Jüdin im Naziregime, die eines Tages realisiert, dass es für sie kein Entkommen mehr gibt.
Franziska Spiegel war verheiratet mit einem Nicht-Juden (Holger Handtke). Das Ehepaar versteckte sich vor den Nationalsozialisten bis kurz vor Kriegsende. Sie fühlten sich sicher, doch bald schon kam ihnen die SS auf die Spur. Eine Flucht in eine neue, unbekannte Stadt wäre die Rettung gewesen, doch diesmal, im November 1944 entschied sich Franziska Spiegel anders…