Frauenfeindliche Spätromantik
Mit dem Katastrophenjahr der Anette von Droste-Hülshoff hat die äußerst vielseitige Schriftstellerin Karen Duve einen faszinierenden Stoff gefunden, mit dem sie der berühmten Dichterin in ihrem Roman «Fräulein Nettes kurzer Sommer» ein weiteres Denkmal gesetzt hat. Die fiktional angereicherte Geschichte spielt im kleinadeligen Milieu ihrer weitverzweigten, im Münsterschen angesiedelten Familie, ergänzt um viele Geistesgrößen der Zeit, die als gerngesehene Gäste dort verkehren. Mit «kurzer Sommer» im Titel wird auf eine Zäsur im Leben des im Familienkreis nur «Nette» genannten, aufmüpfigen Freifräuleins angespielt, die sich nicht nur prägend auf das weitere Leben des Dichterin, sondern auch auf ihr späteres Werk ausgewirkt hat.
«Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Böckerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln», heißt es im ersten Satz des dickleibigen Romans. Heinrich Straube, ewiger Student in Göttingen, von seinem Studienfreund August von Haxthausen, dem Onkel von Nette, alimentiert und als neuer Goethe hoffungslos überschätzt, ist 1819 Gast der Familie. Er wird von August überschwänglich als «Phänomen an scharfem Verstande» vorgestellt, «… von dem schon jetzt das Licht des zukünftigen Ruhmes ausstrahlt», «… und ein Geruch wie von einem nassen Hund», ergänzt Nette vorlaut. Trotz dieses peinlichen Fauxpas verliebt Straube sich in die wenig attraktive, aber geistig brillante Nichte seines Freundes und stellt ihr nach. Als sich das Freifräulein in einem schwachen Moment von dem eher hässlichen jungen Mann küssen lässt, wähnt der sich am Ziel seiner Wünsche, «Sein Glück war gemacht», heißt es dazu im Roman. Eine grandiose Fehleinschätzung, denn sowohl der Standesunterschied als auch die konträren Konfessionen der Beiden lässt eine Ehe absolut undenkbar erscheinen.
Nach dieser Einleitung und einem kurzen Hinweis auf den verheerenden Ausbruch des Vulkans Sumbava östlich von Java, der das Wetter weltweit auf Jahre hin verändert hat und durch monatelangen Dauerregen auch in Westfalen Missernten und Hungersnöte zu Folge hatte, erzählt Karen Duve im Rückblick vom ereignislosen Leben ihrer Protagonistin im Kreise der adeligen Großfamilie auf ihren verschiedenen Landgütern, ein im Ritual erstarrtes Dasein. Sie berichtet zudem vom lustigen Studentenleben in Göttingen, von langweiligen Kuraufenthalten und beschwerlichen Reisen. Neben anderen Bewerbern bemüht sich der charismatische Jurastudent August von Arnswaldt um Nette, insgeheim und vorgeblich, um ihre Treue zu testen, was dem Schönling denn auch gelingt, – die ach so sittsame Nette lässt sich von ihm küssen. Als Fräulein Nette ihn nach diesem Ausrutscher strikt zurückweist und ihre unverbrüchliche Liebe zu Straube beteuert, berichtet Arnswaldt Straube von diesem Vorfall. Beide wenden sich von ihr ab und sehen sie nie wieder, und auch die Familie hat sie nun gegen sich, alle hacken auf ihr herum, – ein Katastrophenjahr für sie!
Mit fleißig recherchierter Detailfülle, von der ein zwölfseitiges Literaturverzeichnis zeugt, erzählt Karen Duve in ihrem spätromantischen Gesellschaftsroman kenntnisreich vom Leben auf den westfälischen Landgütern und von den vielen interessanten Gästen und Freunden. Zu denen gehören die eifrig Märchen sammelnden Gebrüder Grimm ebenso wie Hoffmann von Fallersleben. Und sogar Heinrich Heine taucht darin auf und widerspricht Straube, der ihn im Gespräch den letzten Romantiker nennt: «Ich bin die Überwindung der Romantik!» Die eher lakonisch erzählte Geschichte ist unterhaltsam und bereichernd zugleich, sie vermittelt ein authentisch wirkendes Bild dieser frauenfeindlichen Epoche. Leider bleibt ausgerechnet die berühmte Protagonistin in ihren literarischen Aspekten ziemlich blass in diesem ansonsten in epischer Breite erzählten Roman, der mir speziell beim ritualisierten, immer gleichen Familienleben denn doch zu ereignislos erscheint. Trotzdem ist er eine den Horizont des Lesers erweiternde, angenehme Lektüre.
Fazit: erfreulich
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