Der preisgekrönte Grazer Autor ist Anfang dieses Jahres im Alter von 80 Jahren verstorben. Unter seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken ist vor allem der 1991 abgeschlossene siebenbändige Zyklus “Die Archive des Schweigens” und der Orkus-Zyklus zu erwähnen. Zuletzt veröffentlichte er drei Venedig-Romane (Die Irrfahrt des Michael Aldrian, Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier und Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe).
Imker als Astronauten
Sein nun letzter Roman “Die Imker” ist unter dem Eindruck der weltweiten Corona-Pandemie entstanden und handelt von nichts Geringerem als der Apokalypse, oder dem Weltuntergang. Aber anders als in den geläufigen Erzählungen des Endes der Welt geschieht dieses bei Roth nicht mit einem großen Tata, sondern leise und still. Am Morgen des 1. April zieht ein gelber Nebel auf, der Menschen in Luft auflöst. Franz Lindner, Patient einer Einrichtung für psychisch beeinträchtigte Künstlerinnen und Künstler, und einige andere haben die Katastrophe überlebt. Sie bauen eine Dorfgemeinschaft aus Bienenzüchtern auf und versuchen ihr Über-Leben zu organisieren. Aber es ist schwer, denn “alles ist verschwunden“. “Dann wusste ich mit einem Mal, wo ich Orientierung fand: im meiner Kindheit”, meint Lindner zu sich selbst und entdeckt, dass er sich plötzlich mit den Tieren unterhalten kann. In Gedanken, stumm. Delirierend schreibt oder sagt er auch einige Gedichtzyklen auf, die sich über mehrere Seiten des Romans hinwegziehen. “Die Weintraube ist der Globus der Trinker” heißt es da vielsagend in “Gedichte I”, andere Sätze bedürfen der Reflexion, denn viele stehen für sich alleine und nicht als Teil des sie einrahmenden Gedichtes. So wie das Sanatorium Hoffmann, in dem Franz Kafka gestorben ist. Es befindet sich in der Nähe der (tatsächlich) existierenden Künstler-Kolonie in Gugging, unweit von Wien. Aber auch die Malerei stellt Roth ins Zentrum seiner Betrachtungen. Denn “Die Jäger im Schnee” von Pieter Bruegel dem Älteren wird von ihm aus dem Kunsthistorischen Museum kurzerhand entwendet oder sollte man sagen ausgeborgt? Für Lindner sind Imker “Astronauten, die in ihrer Schutzkleidung in die Welt der Bienen eindringen, um sie zu entdecken, zu erforschen, auszurauben”. Inspiriert wird er auch von den Filmen des Russen Andrej Tarkowski, auch sie handeln zumeist von einer Art Weltuntergang.
Schreiben als Therapie
Auch wenn der Weltuntergang zunächst befremdlich auf die Überlebenden wirkt, beginnen doch einige, ihn auch als große Chance zu sehen. “Waren wir nicht alle Opfer von Normalität gewesen, die über uns bestimmt hatten?, fragte ich mich zum x-ten Mal. Wir durften jetzt sein, wie wir waren, wie wir sein mussten, und das befreite uns.” Und was macht Lindner? Er schreibt. Und dieses Schreiben wird ihm alsbald zum heiligen Ritual, zum Ort, den man wohl Heimat nennt und von wo es nur Gutes zu erwarten gab: “In der Stille, der Einsamkeit wiederum erfahre ich die beseelte Welt. Das Schreiben macht es mir möglich.” Das Schreiben wird zum “Durch-Wände-Gehen” und sogar “Fliegen”, das schreibende Ich zum eigentlich Ich, das immer wieder und wieder in “pausenloser Verwandlung” ein anderes Ich annehmen kann, sich in andere Wirklichkeiten versetzt, Bücher liest. “Ich verspüre beim Schreiben eine Verwandtschaft mit den Bienen. Wörter sind für mich wie Blütenpollen. Ich liebe sie und wünsche, ihren Nektar zu saugen und ihn zu Honig zu verarbeiten.” Ein Imker, der über das Leben eines Schriftstellers nachdenkt wird denn wohl über das Schreiben auch nicht anders formulieren können als so: “Schreiben ist die Metamorphose der Gedanken, von der Erlebnisraupe zur Erinnerungspuppe zum Buchstabenschmetterling.”
Gerhard Roth hat mit “Die Imker” einen philosophischen Roman im Setting einer Dystopie verfasst, eine Art Abschiedsgeschenk an sich selbst. “Die Imker” behandelt nicht nur die Entstehung von Gesellschaft und das Wesen des Menschen, sondern vor allem auch die Bedeutung des Unbewussten und das Rätsel des Todes. Ein Spätwerk, das in einem parabelartigen Gedankenspiel noch einmal alle Motive von Rohts Denken und Schreiben versammelt und so auch die Apokalypse erträglicher und jedenfalls nachvollziehbarer macht.
Gerhard Roth
Die Imker. Roman
2022, Hardcover, 560 Seiten
ISBN: 978-3-10-397467-6
Verlag: S. FISCHER