Dark Matter. Der Zeitenläufer

Dark Matter. Der Zeitenläufer von Blake Crouch

Was wäre wenn? In diese spannende Frage taucht US-Autor Blake Crouch ein, indem er sich des Phänomens der Paralleluniversen annimmt. Er macht es auf spielerische Weise und verlangt keinerlei Vorkenntnisse in theoretischer Physik oder welcher Disziplin auch immer. Das macht den Roman, der zum Science-Fiction-Genre gerechnet werden kann, zu einer angenehmen Lektüre. Doch Vorsicht: Der Stoff hat es in sich!

Jason Dessen führt das beschauliche Leben eines College-Professors. Er lebt mit Frau und Sohn zufrieden in einem Stadthaus, und er liebt seine Familie über alles. Als er Daniela vor fünfzehn Jahren kennen lernte, war sie ein aufgehender Stern in der Kunstszene Chicagos, er ein Spezialist in Neurowissenschaften mit Aussicht auf eine große Karriere. Sie bekamen ein gemeinsames Kind mit gesundheitlichen Problemen und gingen dafür den Kompromiss ein, auf künftige Höhenflüge zu verzichten und ihr Familienleben zu pflegen.

Eines Abends lässt sich Jason überreden, zur Party seines alten College-Kumpels Ryan Holder zu besuchen, der gerade eine hoch dotierte Auszeichnung eingeheimst hat. Auf dem Heimweg wird er von einem Maskierten mit vorgehaltener Pistole gezwungen, in ein Fahrzeug zu steigen und auf ein verlassenes Industriegelände zu fahren. Dort spritzt ihm der Unbekannte eine Droge und damit beginnt für Jason eine unheimliche Achterbahnfahrt, die alles in Frage stellt, was er über sein Leben weiß.

Der Mann, der eigentlich nur für ein Stündchen von daheim wegbleiben wollte, erwacht in einer vollkommen anderen Realität, in der er plötzlich ein berühmter Wissenschaftler ist und von seinen Kollegen gefeiert und verehrt wird. Er fühlt sich unwohl in der Situation, zumal ihn die anderen offenbar für kontaminiert halten, weil er so lange weg war und der erste ist, der einem geheimnisvollen Kubus entkam, der eine zentrale Rolle in dem Szenario spielt.

Jason geht mit Hilfe einer Psychologin in diesen Kubus zurück und stellt fest, dass jeder der zahllosen Türen, die der endlos scheinende Würfel anbietet, in einer anderen Variante einer nahezu gleichen Realität mündet. Bald erkennt er, dass er in parallelen Welten unterwegs ist, die ihn immer wieder zu jenem Ausgangspunkt zurückführen, an dem er seine Frau Daniela kennenlernte. Mal kreuzt sie nur seinen Weg, sie bleibt die Künstlerin auf dem Weg zum Weltruhm, er der Naturwissenschaftler mit Traumkarriere. Dann wiederum verliebt es sich frisch in sie und alles nimmt einen anderen Lauf.

Doch er ist nicht allein im Karussell des Kubus. Dutzende, vielleicht sogar hunderte Jasons sind auf der Jagd nach Daniela, die von all dem nichts ahnt oder auch nur bemerkt. Jason erfährt auf seinen Irrwegen durch die Realitäten, wer ihn auf diese unheimliche Reise geschickt hat und was derjenige damit bezweckt. Doch all das hilft ihm wenig, die Tür in seine alte Existenz zurückzufinden, zumal die anderen Doppel- und Wiedergänger beginnen, sich gegenseitig zu massakrieren. Zudem stellt sich die Frage, wie er seine Frau im Durcheinander der Kopien davon überzeugen kann, der richtige Jason zu sein.

Blake Crouch versteht es meisterhaft, die multiplen Welten zu schildern, durch die Jason schliddert. Das macht sein Buch lesenswert und veranschaulicht sein eigentliches Thema, nämlich das der Parallelwelten. Wer sich die Mühe gemacht hat, Frank Schätzings „Tyrannei des Schmetterlings“ zu lesen, der ja ebenfalls das Thema behandelt, findet bei Crouch plötzlich einen lesbaren, nachvollziehbaren und äusserst packend geschriebenen Roman zum Thema.

Das hat auch damit zu tun, dass der Autor nicht auf großartige theoretische, philosophische oder gar naturwissenschaftliche Erläuterungen abstellt, sondern den realen Prozess des Durchwanderns zeigt, statt ihn zu erklären. Wissenschaftlicher Hintergrund der ganzen Geschichte ist die Überzeugung vieler Astrophysiker, dass es eine Materie geben muß, die unsere Welt am Laufen hält. Die im Buchtitel genannte „Dark Matter“ (= Dunkle Materie), mag ein Hinweis darauf sein, dass neben unserer Welt Parallelwelten (das Multiversum) existieren könnten.

Der Kubus jedenfalls verschafft Jason die Möglichkeit, ein Multiversum zu betreten, in dem er verschiedene Optionen hat, beispielsweise die der Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere statt die der Familie. Aber es gibt noch unendlich mehr Varianten: Mal muss er sterben, mal stirbt sein Sohn, mal wird Chicago von einer grässlichen Seuche dahingerafft, mal erlebt er einen seiner Doppelgänger im Bett seiner Frau.

All das ist für Jason ebenso widersprüchlich wie grausam, denn er möchte nichts lieber als in sein altes Leben zurück, in dem er glücklich und zufrieden war. Ob ihm das gelingt, mag der Leser selbst herausfinden, der vielleicht auch Antwort auf die Frage sucht, ob er selbst glücklich ist und den besten aller möglichen Wege eingeschlagen hat.

Dabei steht das Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie im Vordergrund sowie die Art, mit der sich beide mitunter in die Quere kommen und durchaus auch behindern. Denn mit jeder Entscheidung, so ist es im Leben wie im Buch, öffnet sich eine Tür und schließt sich eine andere.

Crouch widmet seinen „Zeitenläufer“ all jenen, die sich fragen, wie ihr Leben am Ende eines nicht eingeschlagenen Weges aussehen könnte. Es ist insofern ein Buch, das neben packender Unterhaltung und großem Lesevergnügen eine philosophische Dimension öffnet, wie es selten ein Buch vermag.


Genre: Romane, Science-fiction
Illustrated by Goldmann München

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