Vor Rehen wird gewarnt

Ein Reh als Raubtier

Nicht der bekannteste Roman von Vicky Baum, aber zweifellos ihr bester ist «Vor Rehen wird gewarnt», erstmals 1951 in englischer Sprache erschienen und fünf Jahre später mit Maria Schell als grandioser Fehlbesetzung verfilmt. Denn der Titel des Romans ist ironisch gemeint, seine Protagonistin ist alles andere als ein sanftes Reh, das «Seelchen», so der Spitzname der braven ‹Schelle Marie›, konnte diese unredliche, kalt berechnende Romanfigur nicht glaubhaft verkörpern. Die 1932 in die USA emigrierte, während der Weimarer Republik höchst erfolgreiche österreichische Schriftstellerin war lange in Vergessenheit geraten. Zu ihrem 60ten Todestag wurde nun ihr anspruchsvollster Roman in einer leicht überarbeiteten Übersetzung neu herausgegeben und als erfreuliche Wiederentdeckung gefeiert. Mit Recht?

Angelica Ambros heißt das Reh, das gleich zu Beginn als dominante, 65 Jahre alte Dame bei einer Bahnreise Ende des Zweiten Weltkriegs ihr großes Talent zur Manipulation ihrer Mitreisenden eindrucksvoll unter Beweis stellt. Diese auf ein tragisches Ende hinsteuernde Bahnfahrt in Begleitung ihrer Stieftochter Joy dient als erzählerische Klammer des dreiteiligen Romans, der im Mittelteil in Rückblenden ihr Leben beschreibt. Am Ende eben dieser Reise und damit auch des Romans steht quasi als Resümee der Stoßseufzer ihres Rechtsanwalts: «Das zäheste alte Luder, das mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist». Ann ist ein zartes, bezauberndes Mädchen aus gutem Hause in San Francisco, sie wird von ihrer älteren Schwester Maud, vom italienischen Kindermädchen und von den wohlhabenden Eltern verwöhnt und verhätschelt. Als junge Frau wickelt sie alle Männer um den Finger und verliebt sich schließlich unsterblich in den Wiener Geigenvirtuosen Florian, von dem sie ganz sicher ist, er würde ihr Mann werden. Als er sich aber überraschend für ihre Schwester entscheidet, heiratet sie aus purem Kalkül einen reichen Unternehmer, der sie verwöhnt und mit Geschenken überhäuft. Maud bekommt ihre Tochter Joy, und auch Ann bekommt einen Sohn, den sie über alles liebt, der aber zu ihrem Leidwesen so ganz nach seinem grobschlächtigen Vater geraten ist.

Vicky Baum erzählt ihre raffiniert konstruierte, etwa fünf Jahrzehnte umfassende Geschichte von Ann und ihrem Stargeiger in einer angenehm lesbaren, unverschnörkelten Sprache mit erstaunlichem psychologischen Einfühlungsvermögen. Alle ihre Figuren sind sehr plastisch beschrieben und wirken glaubhaft, wobei insbesondere das Seelenleben von Ann geradezu seziert wird, alle ihre äußerst trickreichen Winkelzüge und unverfrorenen Ränkespiele, falschen Schmeicheleien und geschickt lancierten Unwahrheiten offenlegend. Sie ist einerseits Opfer ihrer grenzenlosen Phantasien, vieles an ihr ist reine Pose, sie nimmt sich andererseits aber rücksichtslos alles, was sie will, und ist fest davon überzeugt, dass ihr auch all das zusteht. Dabei schreckt sie selbst vor illegalen Machenschaften nicht zurück, Versicherungsbetrug begeht sie ohne jedes Unrechtsbewusstsein, ihr Psychogramm weist sie als eine radikale Egoistin aus. Ihre moralisch höchst zweifelhafte Persönlichkeit ist insoweit eine eindrucksvolle Bestätigung von Darwins «Survival of the Fittest», denn Ann findet auch beim größten Schlamassel stets einen Ausweg, sie behält den Kopf immer oben. Bei alledem wirkt sie, und das ist ihre Stärke, durchaus nicht unsympathisch, sie ist charmant und ruft als kapriziöses Persönchen vor allem bei den Männern reflexartige Beschützer-Instinkte hervor.

Neben interessanten Einblicken in das Musikleben, zu dem hier auch eine Stradivari gehört, baut Vicky Baum geschickt das Große Erdbeben, die Weltausstellung und den Börsencrash in ihren Hollywood-artig angelegten Plot mit ein. Ihre Erzählung ist unterhaltsam und oft auch amüsant, weil man als Leser, schon von der Idee an, die heimtückischen Winkelzüge ihrer Heldin quasi hautnah miterlebt und nun durchaus gespannt ist, ob sie mal wieder damit durchkommt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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