Jakob von Gunten

walser-r-1Die Zucht von Untertanen

Von vielen berühmten Kollegen bewundert, wurde Robert Walser als einer der größten deutschen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts einem breiteren Lesepublikum erst nach seiner Wiederentdeckung in den 1970er Jahren bekannt. Eines seiner frühen Prosawerke ist «Jakob von Gunten», 1909 unter der Bezeichnung «Ein Tagebuch» erschienen, in seiner Berliner Epoche also, in der vergleichsweise realistische Texte entstanden. Gemeinsam ist ihnen die Perspektive einer an Unterwürfigkeit grenzender Bescheidenheit, der Titelheld Jakob schreibt sein undatiertes Tagebuch als Zögling einer Dienerschule im wilhelminischen Berlin. Der nicht chronologisch gegliederte Text spiegelt eigene Erfahrungen wider, die der Autor in einer derartigen Anstalt gemacht hat, zu Recht wird dieses Buch deshalb häufig auch als Entwicklungsroman bezeichnet. Walsers Realismus trägt hier wahrhaft monströse Züge und ähnelt in seiner märchenartigen, verstörenden Rätselhaftigkeit dem Stil seines Bewunderers Franz Kafka. Das Motiv des gegängelten Zöglings findet sich ähnlich auch in Musils «Törless» und, tragisch endend, auch in Hesses «Unterm Rad».

Anders jedoch liegt hier eine stets präsente Heiterkeit über dem Erzählten, auch wenn der Geschichte fundamentale Ängste zugrunde liegen. Sein Buch sei «zum größten Teil eine erzählerische Phantasie», hat Walser angemerkt, und so steht dem verstörend Servilen ein durchaus robustes Selbstverständnis seines eigenwilligen Protagonisten gegenüber. Jakob stammt aus einer wohlhabenden Familie, er ist von zuhause weggelaufen und ganz bewusst in das Institut «Benjamenta» eingetreten, um sich als Diener ausbilden zu lassen. In dieser merkwürdigen Anstalt lehrt nur Lisa, die Schwester des Vorstehers, die anderen Lehrer sind abwesend oder liegen in tiefem Schlaf. Lehrstoff ist ausschließlich eine Broschüre mit der Selbstdarstellung des Instituts sowie die «Vorschriften». Unter dem Motto «Wenig aber gründlich» werden die Zöglinge einseitig gedrillt, sie lernen ihren «Lehrstoff» stur auswendig. Jakob, der sich für den Gescheitesten unter den Schülern hält, fühlt sich verdummt und rebelliert, was ihm strenge Strafen einträgt, denen er sich geradezu masochistisch unterwirft. Allmählich ändert sich das Verhalten des Vorstehers zu ihm, er avanciert zu dessen Liebling und gewinnt auch das Vertrauen von dessen Schwester. Als Lisa stirbt und auch die Schülerzahl rapide sinkt, schließt der Vorsteher die Dienerschule, er will mit Jakob in die Welt hinaus.

Der flüssig lesbare Bericht des Ich-Erzählers ist in einer altersgemäßen Sprache abgefasst, deren naiver Duktus wirkungsvoll die dahinter liegende Problematik kaschiert. Vor einige Verständnisprobleme stellen den Leser die fehlende Chronologie der fragmentarischen Berichtsteile sowie das Vermischen von Realem mit Jakobs Träumen und Phantasien. Zusammen mit den ebenfalls vorhandenen Leerstellen des Plots werden zwangsläufig eigene Deutungen angeregt, es werden darüber hinaus aber auch spekulative Ergänzungen des märchenhaft Unvollständigen bewirkt. Jakobs Hang zum Servilen wird in seinen Träumen konterkariert, dort wird er als Soldat in den Adelsstand erhoben, zieht mit Napoleon nach Moskau, verlässt mit dem Vorsteher zusammen die Dienerschule, beide reiten auf Kamelen in die Wüste.

Ich habe «Jakob von Gunten» als gekonnte Parodie des klassischen deutschen Bildungsromans gelesen, Figuren wie der undurchschaubare Vorsteher oder dessen feenhafte Schwester, aber auch Schulfreund Kraus als arbeitswütiger, unbeirrbar pflichtbewusster Zögling sind ja geradezu Karikaturen ihrer selbst. Die Sucht nach Erniedrigung macht die Absolventen der Zuchtanstalt  «Benjamenta» zu willfährigen Untertanen, ganz im Sinne der damals Herrschenden. Wohl kaum aber im Sinne von Robert Walser, der das deutsche Obrigkeitsdenken hier fast schon zynisch vorführt, – aus seiner eigenen, eher unterprivilegierten Perspektive, seine Biografie gibt dafür eindeutige Hinweise.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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