Der geschenkte Gaul: Bericht aus einem Leben

Hildegard Knef hatte mit Ende vierzig ihren „Bericht aus einem Leben“ herausgegeben. Dass ich ihn fünfzig Jahre später lesen wollte, liegt an Angela Merkels Wunsch, sich vom Bundeswehrorchester zum Abschied das Lied Für mich soll’s rote Rosen regnen, als Ständchen darbieten zu lassen. Ihre Lieder hatten mir schon lange gefallen, vor allem Von nun an ging’s bergab, nun weiß ich, dass es eine, in ihrem kodderigen Stil gefasste, Kurzbiografie darstellt …

Das Buch überrascht, es ist ein Stilmix, von ihrer Jugendzeit sind es lebhafte Erzählungen, später werden es Tagebuchnotizen, manchmal sind Briefe eingestreut, die Jahrzehnte später verfasst sind, alles ist prall gefüllt mit ihren Erlebnissen, geprägt von ihrer Neugier und Lust auf das Leben.

Als Kleinkind zieht ihre Familie Mitte der Zwanziger nach Berlin, kurze Zeit später stirbt der Vater, die Mutter muss Geld verdienen und so kommt sie zu den Großeltern. Am liebsten ist sie mit dem Opa in Zossen, in einer Laube, wo sie sich frei entfalten konnte. Das erste Kapitel heißt „Liebeserklärung an meinen Großvater.“ Die Oma hatte Angst vorm jähzornigen Ehemann, ihr konnte er gar nichts. Später, als ihr erster Ehemann auch zu Jähzorn neigt, ist es ihr auch kein Problem.

Die Mutter heiratet einen Schuhmacher, dessen Geschäft am S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) liegt, und sie berichtet von seinen Versuchen, den Blockwart auszutricksen, wenn er seinen Laden mit der Nazifahne schmücken soll. Zwei Lehrerinnen langweilen sie mit dem Schwärmen von Führer und Vaterland, manche schikanieren sie. Das erschwert die Berufswahl, es gelingt ihr, in einen Zeichenkurs bei der Ufa zu kommen. Sie will mehr, glaubt an sich, und sie schafft es, als Schauspielerin vorzusprechen. Ihr Motto ist, ganz berlinerisch: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr.

Der Krieg beginnt, die ersten Freunde werden Soldaten, dann fallen die Bomben, sie verbringt Abende in Bunkern und sieht, wie Stück für Stück das Viertel zerstört wird. Die Straßennamen aller ihrer Wohnungen sind ausgeschrieben, die meiste Zeit wohnte sie ganz in der Nähe meines Wohnorts, was meine Aufmerksamkeit erhöhte. Die Mutter ist mit dem kleinen Bruder evakuiert, sie lebt mit dem schwindsüchtigen Stiefvater zusammen, als die Wohnung teils zerbombt ist, kommt die Kapitulation.

Als Freund bei Kriegsende hatte sie einen führenden Parteigenossen, dessen Namen sie nur als Initiale, aber mit Adelstitel verrät. Sie schließt sich ihm zur Verteidigung der Stadt an, sie wollten, an der S-Bahn entlang, Richtung Westkreuz kämpfen und müssen aufgeben, kommen beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Alle diese Begegnungen sind ohne Wehklagen geschrieben, nach vorne wird geguckt. An ihn, E.v.D. denkt sie oft, einmal schreibt sie von den Flitterwochen am Kriegsende.

Weiter geht es, als die Alliierten das Sagen haben, als die Amis Häuser besetzen in Zehlendorf und die Briten in Wilmersdorf. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, Schauspielerin: Sie macht mit beim ersten Film nach Kriegsende: Die Mörder sind unter Uns, aber lieber noch spielt sie Theater mit Borislaw Barlog.

Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen, die Ruhr grassiert, aber das hält sie nicht auf. Ein Ami macht ihr den Hof. Dazu, ganz trocken: „Kurt Hirsch, wurde später der Assistent von Erich Pommer, noch später mein Angetrauter und wesentlich später ein von mir Geschiedener.“

Bei den Amerikanern in Zehlendorf wird sie entnazifiziert, mit Hirsch sieht sie bei den Sowjets einen Film über Auschwitz und beginnt zu begreifen. Seine Eltern sind Juden und werden nie verstehen, wie ihr Sohn eine Deutsche heiraten konnte.

Die ersten Jahre nach Kriegsende sind bewegt, sie lernt Englisch und französisch. Der Film Die Sünderin wird zu einem Skandal, umso mehr zieht es sie nach Hollywood, sie kann als Deutsche keine Verträge abschließen, mit Ihrem Mann wandert sie aus und filmt in den USA, lebt in Hollywood, das in der Zeit von McCarthy als linksversifft bekämpft wird.

Ihre Beobachtungen sind genau, fast wie ethnologische Studien, wenn sie über Sitten, etwa Grill- und andere Partys, schreibt. Sie beschreibt die Dichte von Therapeuten in Hollywood, besonders amüsant wird es, wenn sie von Vertreterinnen der Frauenorganisationen ob ihrer Moralvorstellungen verhört wird. Natürlich trifft sie viele Prominente, schon in Berlin war es so, sie begegnet Rock Hudson, übrigens hat er dieselbe Sprachlehrerin wie sie, Henry Miller, Cole Porter ist Komponist ihrer Broadway-Show. Es bleibt nicht beim name dropping, sie freundet sich mit manchen an, mit Marcuse, vor allem mit Marlene Dietrich, die sie fast ein bisschen bemuttert, ihr ihren Astrologen empfiehlt, und sie mit Rat und Tat unterstützt.

Eingestreut sind interessante Überlegungen, warum gibt es im Englischen kein „Sie“? Wie ist das Bild der Deutschen im Ausland, wie denken die vielen Emigranten, denen sie immer begegnet? Sie ist die „Kraut“ und wird bei Interviews nicht dazu befragt, wie ihr Schauspiel ist, sondern, ob sie Nazi war.

Später geht sie dazu über, Tagebucheintragungen zu verwenden. Es gibt Erfolge, aber auch Enttäuschungen in New York, Rückkehr nach Deutschland, Ärger mit Produzenten, Me too-Erlebnisse. Eine lange Aufzählung ist den Anfeindungen gewidmet, die sie, lange vor den Zeiten, des Shitstorms erfährt. Und dann Aufzählungen der vielen Krankheiten, die sie durchlitt.

Zum Schluss kommen Berichte ihres Glückes nach der Geburt ihrer Tochter Tinta, und dem Leben mit deren Vater.

Ich las die Erzählungen in ganzen Sätzen, gerne im feuilletonistischen Stil der Theaterkritiker ihrer Zeit, sehr gerne. Das Lesen der Satzbrocken wurde anstrengend. Ob ein Redigieren es verbessert hätte? Oder ist es gerade ihr Stil, frisch und frei „von der Leber weg“ zu schreiben? Jedenfalls konnte ich ihre ersten drei Jahrzehnte mit mehr Aufmerksamkeit, ja Anteilnahme lesen. Schon die vielen zeithistorischen Hinweise lohnen die Lektüre, sie wusste eben, wieder ganz berlinerisch: „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“


Genre: Biografien, Theater
Illustrated by Ullstein