Die kurze Geschichte der deutschen Literatur

schlaffer-1Erstaunliche Lesefrüchte

Dem Volk der Dichter und Denker stehe eine eher bescheidene Stellung zu im Kosmos der Weltliteratur, konstatiert Heinz Schlaffer in seinem Essay «Die kurze Geschichte der deutschen Literatur». Er tut dies unbekümmert um die voraussehbaren Irritationen in der Fachwelt, allein der Titel ist ja schon provokant. Als «deutscher» Germanist und Literaturprofessor hat der klarsichtige Autor seiner elitären Zunft einige unbequeme Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben. Das «kurz» im Buchtitel begründet er damit, dass «die Abschnitte, in denen eine im literarischen Gedächtnis der Nachwelt aufbewahrte Dichtung gelungen ist, in der deutschen Geschichte selten sind und zudem kurz». Als Blütezeiten nennt er eine klassisch-romantische Epoche um 1770 bis 1830, gefolgt von einer Art Zwischenhoch, sowie die erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts.

Auf lediglich 150 Buchseiten gewährt Schlaffer auch Nichtphilologen, auch dem lesenden Otto Normalverbraucher also, einen faktenreichen Einblick in seine wissenschaftliche Disziplin. Die von Germanisten massenhaft ausgegrabenen, vermodernden Handschriften landeten «unter Umgehung der Leser» nach Analyse, Kommentierung und Neuedition in der ewigen Ruhe der Bibliotheken. «Viel wird geforscht, wenig gelesen», stellt er resigniert fest. Im steten Vergleich mit fremdsprachigen Literaturen und deren anders verlaufender Entwicklung arbeitet Schlaffer scharfsinnig den speziellen Weg der deutschen Literatur heraus, zeigt in brillant formulierten, äußerst komprimierten Gedankengängen eine Fülle von Faktoren auf, die ursächlich waren für deren Genese. Genannt werden da unter anderem die späte Abkehr von der lateinischen Sprache, die auffallende Häufung evangelischer Pfarrerssöhne unter den Dichtern, die einseitige und viel zu lang anhaltende Fixierung auf antike Vorbilder, mangelnde Rücksichtnahme zudem «auf die psychischen Bedürfnisse solcher Leser, die lieber phantasieren als denken».

Kaum einer der heutigen Leser gehe in seiner Lektüre weiter zurück als bis zu Fontane, andererseits endet für Schlaffer die letzte der beiden Blütezeiten deutscher Literatur um 1950, nur Grass, Böll und eine Handvoll anderer gelten von den späteren Autoren noch als Kandidaten dafür, einmal literarische Klassiker zu werden. Eine kühne Prognose, deren Wahrheitsgehalt nur die Nachwelt wird verifizieren können, denn er definiert: «Klassisch ist ein literarisches Werk, wenn es gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig ist». Auch bei enthusiastischen Lesern heutiger Autoren dürften, bei derart rigiden Maßstäben, leise Zweifel aufkommen, was die zeitbeständige Qualität ihrer Lieblingslektüre, aber auch der allermeisten anderen aktuellen Werke anbelangt, selbst über die historisch kurze Zeitspanne von lediglich einer einzigen Generation hinweg. Wer auch nur einmal in seinem Leben eine private Bibliothek aufgelöst hat, wird da wohl zustimmen müssen.

Unsere gegenwärtige Belletristik teilt, war meine ganz persönliche Schlussfolgerung, insoweit das Schicksal von Eintagsfliegen, und daran ändern die inflationäre Flut an wohlmeinenden Literaturpreisen ebenso wenig wie die häufigen Jubelrezensionen des Feuilletons. Insoweit leistet Schlaffers Buch einen wichtigen Beitrag zur Erdung einer nach Buchneuheiten süchtigen Leserschaft, die mit ihren Lieblingsautoren im siebten Literaturhimmel schwebt. Voraussetzung für Dichtung sei «die artistische Beherrschung der Sprache und Toleranz dem Spiel mit Fiktionen gegenüber». Dauerhaft, möchte ich hinzufügen, wird gute Literatur ausschließlich als zeitloses Kunstwerk, dem ein individueller Genius innewohnt. Dem aufnahmebereiten Leser, auch einem ohne entsprechende Vorbildung, vermag das schmale Buch in dieser Hinsicht eine erstaunliche Fülle von Lesefrüchten zu bieten.

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
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