Oh William

Auf der Suche nach dem Bindemittel

In ihrem neuen Roman «Oh William» thematisiert die US-amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen am Beispiel eines älteren Paares, das, seit Jahrzehnten getrennt, noch immer geheimnisvollen Bindungs-Kräften unterliegt. Es ist das Anliegen der Autorin, die mit der Zeit zugedeckten Mechanismen zu ergründen, die wider jede Vernunft weiterhin so offenkundig wirksam sind zwischen den Beiden. Wie beim Häuten einer Zwiebel entfernt sie Schicht um Schicht, um zum Kern dieser mysteriösen Kraft vorzudringen. Könnte es sein, dass sie auf diese Weise wirklich das Geheimnis lebenslanger Bindungen entdeckt?

Die Schriftstellerin und Ich-Erzählerin Lucy Barton hat als Studentin in New York den sieben Jahre älteren Biologie-Professor William Gerhardt geheiratet und ihm zwei Töchter geboren. Nach zwanzig Jahren hat sie ihn verlassen und die Scheidung eingereicht. Später dann hat sie zum zweiten Mal geheiratet, den körperlich gehandicapten Cellisten David, mit dem sie eine sehr glückliche Ehe geführt hat. Zu Beginn der Erzählung ist Lucy in Trauer, ihr David ist seiner schweren Krankheit erlegen, und William ist gerade von seiner inzwischen dritten Frau verlassen worden. Lucy hatte den Kontakt zu ihrem Exmann über all die Jahre nie verloren. In größeren Abständen haben sie sich immer mal getroffen oder auch nur miteinander telefoniert, wenn Lucy sich aussprechen oder wenn William seine Probleme mit jemand teilen wollte. Ihre beiden wohlgeratenen Töchter waren dabei eines der Bindeglieder für den nie abgerissenen, losen familiären Zusammenhalt.

Der Roman führt den Leser tief hinein in die typisch weibliche Gedankenwelt von Lucy, deren Erzählweise oft sehr sprunghaft ist und die angerissenen Themen auch nicht immer zu Ende führt, somit also reichlich Raum lässt für eigene Ergänzungen und Interpretationen. Während Lucys Herkunft und Kindheit mutmaßlich wenig erfreulich war, worüber man aber nichts erfährt, gibt es um Williams verstorbene Mutter Catherine ein Geheimnis. Estelle, die dritte Exfrau von William, macht ihn darauf aufmerksam, dass es inzwischen ja Internet-Dienste gebe, die Nachforschungen in familiären Angelegenheiten anbieten. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass Williams Mutter ein dunkles Geheimnis hatte, dem er nun auf einer gemeinsamen Reise mit Lucy auf den Grund gehen will, womit die Autorin geschickt Spannung aufbaut, ehe es dann zu dem vorhersehbaren Showdown kommt.

Elizabeth Strout hat einen ganz eigenen, beiläufig wirkenden Erzählstil entwickelt, welcher einem intimen persönlichen Gespräch ähnelt, unter Frauen, versteht sich! Die obligaten Kleidungsfragen werden da genau so behandelt wie der Einrichtungsstil von Wohnungen, im Vordergrund aber stehen natürlich die Männer mit ihren (allseits bekannten) Fehlern und Schwächen. Ihre Erzählhaltung bleibt vage, oft enden Sätze mit den Worten «ich sage nichts weiter dazu», beginnen mit «Um ganz ehrlich zu sein» oder «Was ich auch noch sagen wollte». Einen Absatz über ihren zweiten Mann leitet sie mit den Worten ein: «Aber lassen Sie mich nur noch eines über diesen Mann sagen», und über William sagt sie: «Mein Gott, war der Mann mir ein Trost». Das ist es dann auch, was sie als Essenz aus all ihren Überlegungen zum Thema Zweisamkeit herausdestilliert hat: Wenn die erste, die große Liebe abgeklungen ist, wenn die Normalität die Oberhand gewonnen hat, dann ist das Gefühl der unbedingten Verlässlichkeit das entscheidende, Halt gebende Bindemittel. Was natürlich nicht ausschließt, dass Lucy immer wieder mal einen Stoßseufzer zum Himmel schickt, wie er so schön im Buchtitel zum Ausdruck kommt: «Oh William». Was verzweifelt klingt, aber oft spöttisch gemeint ist und nostalgisch zurückweist in vergangene Zeiten. Besonders kennzeichnend ist die offensichtliche Menschen-Freundlichkeit der Autorin, auch wenn sie zuweilen lakonisch, geradezu kopfschüttelnd von ihnen erzählt.

Fazit: lesenswert

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