Scheherezade
Der in Bulgarien geborene Schriftsteller deutscher Sprache Elias Canetti wurde 1981 für sein umfangreiches Gesamtwerk mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Neben seinem großen theoretischen Hauptwerk, der soziologischen Studie «Masse und Macht», neben einigen Dramen und einem breit angelegten, autobiografischen Zyklus spielt die Epik darin eher eine Nebenrolle, sieht man von seinem ersten und einzigen Roman «Die Blendung» ab – von dem er sich im Alter dann auch noch distanziert hat. Und so ist denn der schmale Band «Die Stimmen von Marrakesch» mit einer losen Sammlung von Eindrücken während einer Reise, die ihn 1954 im Tross eines Filmteams nach Marokko führte, eines der wenigen Zeugnisse seines erzählerischen Talents. Er hat seine Impressionen von dieser Reise lange danach, aus dem Gedächtnis, zu Papier gebracht, das daraus entstandene Buch erschien erst vierzehn Jahre später.
Die erste Geschichte, wie könnte es anders sein, trägt den Titel «Begegnung mit Kamelen», diese Wüstenschiffe sind ja geradezu ein Symbol für den Orient. «Dreimal kam ich mit Kamelen in Berührung, und es endete jedes Mal auf tragische Weise» lautet der erste Satz des Buches. Der Autor durchstreift die Suks, bewundert die Handwerker und das traditionelle Ritual des Feilschens, sieht tagtäglich das unsägliche Elend der allgegenwärtigen Bettler. Er geniest nach dem lärmenden Treiben in den Gassen die Stille der Häuser mit ihren Innenhöfen und das diskrete Refugium der Dächer mit ihrer streng zu beachtenden, nachbarlichen Privatsphäre. Aus sephardischer Familie stammend besucht Canetti natürlich auch die Mellah, das Judenviertel von Marrakesch, und er entdeckt schließlich dort den jüdischen Friedhof. Die Zumutung des Todes und ihre Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen gehörte zu den Hauptinteressen seiner Forschungen, er thematisiert es auch hier, indem er exemplarisch und sehr subtil die geheimen Gefühle eines Besuchers dort beschreibt: «Sein eigener Zustand erscheint ihm beneidenswert. Auf den Grabsteinen liest er die Namen von Leuten; jeden einzelnen von ihnen hat er überlebt. Ohne dass er es sich gesteht, ist ihm ein wenig so zumute, als hätte er jeden von ihnen im Zweikampf besiegt. […] Auf welchem Schlachtfeld der Welt bleibt er als einziger übrig? Aufrecht steht er mitten unter ihnen, die alle liegen».
In einer Welt voller Analphabeten sind «Erzähler und Schreiber», wie eine der 14 Geschichten betitelt ist, wichtige Figuren der marokkanischen Gesellschaft jener Zeit. Als Schriftsteller begegnet Canetti hier der Urform des Erzählens und vergleicht sich damit: «Ihre Sprache war ihnen so wichtig wie mir meine. Worte waren ihre Nahrung und sie ließen sich von niemand dazu verführen, sie gegen eine bessere Nahrung zu vertauschen». Er bedauert, sich der Schrift und dem Papier zugewandt zu haben. «Unter den Menschen unserer Zonen, die der Literatur leben, habe ich mich selten wohl gefühlt. Ich habe sie verachtet, weil ich etwas an mir selbst verachte, ich glaube, dieses Etwas ist das Papier. Hier fand ich mich plötzlich unter Dichtern, zu denen ich aufsehen konnte, weil es nie ein Wort von ihnen zu lesen gab». Er trifft in einer französischen Bar mit dem durchaus passenden Namen «Scheherezade» verschiedene Ausländer, lernt durch Zufall eine arabische Familie kennen, wird mit der unübersehbaren Lust eines Esels konfrontiert, nur beim Thema Frauen bietet Marrakesch dem Schwerenöter sehr wenig Erzählbares.
In seinen literarischen Miniaturen beeindruckt Canetti mit einer geradezu orientalischen Erzählkunst, die Geräusche, Gerüche, Gefühle erlebbar macht, auch wenn hier in Aufbau und Sprache von großer Literatur wirklich nicht die Rede sein kann. Bei vielen seiner Leser ruft er damit allenfalls Fernweh hervor, bei anderen womöglich Lust auf literarische Entdeckungen im Werk dieses hoch prämierten, aber wenig gelesenen Autors mit Geheimtipp-Status.
Fazit: lesenswert
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