Tagebuch eines Lesers

Geschmälerte Lesefrüchte

Wie kein zweiter hat der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel sich mit dem Wesen des Buches auseinandergesetzt, «Das Tagebuch eines Lesers» gehört in eine Reihe mit ähnlichen Werken wie «Eine Geschichte des Lesens» oder «Eine Stadt aus Worten». Im vorliegenden Tagebuch nun verdeutlicht der Autor die Wirkung des Lesens am Beispiel seiner Eindrücke und Reflexionen beim Wiederlesen von zwölf seiner Lieblingsbücher. Jeden Monat, vom Juni 2002 bis Mai 2003, liest er eines dieser Bücher und hält tagebuchartig seine Gedanken dabei fest, es entsteht also gleichzeitig eine ergänzende Sammlung von «Notizen, Reflexionen, Reiseeindrücken, Charakterskizzen, öffentlichen und privaten Ereignissen». Jeder ernsthaft mit Literatur befasste Leser dürfte gespannt darauf sein, welche Wirkungen das Lesen bei diesem polyglotten Schriftsteller hervorzurufen vermag, und welche Bücher er denn aus seiner riesigen, mehr als 30.000 Bände beherbergenden Bibliothek für sein Vorhaben ausgewählt hat.

«Manche Bücher durchqueren wir im Fluge. Schon beim Umblättern vergessen wir, was auf der vorigen Seite stand.» schreibt Manguel im Vorwort. Andere lese man mit Ehrfurcht, manche dienten lediglich zur Information, einige wenige aber seien einem ans Herz gewachsen. Und er beginnt mit «Morells Erfindung» von Adolfo Bioy Casares, es folgt «Die Insel des Dr. Moreau» von H.G. Wells, «Kim» von Rudyard Kipling, «Erinnerungen von jenseits des Grabes» von Chateaubriand und «Das Zeichen der Vier» von Doyle. Extra für die deutsche Ausgabe geschrieben ist das Kapitel «Peter Schlemihls wundersame Geschichte» von Chamisso, womit deutlich wird, dass dieses Tagebuch nicht wirklich chronologisch angelegt sein dürfte, sondern wohl eher als fiktional anzusehen ist. Weiter geht es mit «Der Wind in den Weiden» von Kenneth Grahame, «Don Quijote» von Cervantes, «Die Tartarenwüste» von Dino Buzzati, «Das Kopfkissenbuch» von Sei Shonagon, «Der lange Traum» von Margaret Atwood, und zum Schluss «Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas» von Machado de Assis.

Neben den Anmerkungen zu diesen Lieblingsbüchern findet man eine Fülle von Querverweisen und Anekdoten zum jeweiligen Autor und seinem Werk, Vergleiche mit ähnlichen Büchern und anderen Schriftstellern, Berichte von Begegnungen mit Kollegen, aber auch jede Menge Zitate aus und Hinweise auf andere literarische Werke von Rang. Der nichtliterarische Teil des Tagebuches bezieht sich auf politische Ereignisse, Alltagsgeschehen, Reiseerlebnisse, Träume, eigene Erkenntnisse und philosophische Fragen. Bei Chateaubriand beispielsweise, der Lektüre des Monats September, fügt er anlässlich der Ereignisse von 9/11 erregt eine Tirade auf den Terrorismus ein. Mehrfach auch weist er auf den bevorstehenden Irak-Krieg hin und auf dessen fadenscheinige Begründung. Man erfährt aber wenig aus seinem Privatleben, er erwähnt nur beiläufig mal ein Gespräch mit seinem Sohn und versteckt hinter dem Kürzel C. verschämt seinen Lebenspartner Craig Stephenson.

Manguel bezeichnet sich selbst als eklektischen Leser, sein Tagebuch folge keiner Denklinie, sondern sei «fragmentarisch, ungeordnet», was ihm erlaube, «ohne vorgefasstes Ziel zu denken». Als leseversessener Buchnarr, der nebenbei auch schreibt, nimmt er insoweit eine Sonderstellung ein in der gehobenen Literatur. Ob sein Tagebuch allerdings inspirierend wirkt und eine Folgelektüre anzuregen vermag, das ist angesichts der eigenwilligen Buchauswahl mehr als fraglich. Neben einer kurzen Erwähnung von Thomas Mann und Kafka ist die deutsche Literatur mit Chamisso für ihn nämlich bereits abgehandelt. Der einzige moderne Autor im Buch ist Jonathan Littell mit dem Roman «Die Wohlgesinnten», – wie Manguel in einer kurzen Notiz schreibt, musste er den Auftrag für eine Übersetzung ablehnen. Diese einseitig einem südamerikanischen und angelsächsischen Literatur-Kanon folgende, rückwärts gewandte Buchauswahl schmälert leider die Lesefrüchte aus dieser speziellen Lektüre erheblich.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by Fischer Verlag

Eine Geschichte des Lesens

manguel-1Vom Manna des Lesens

Wem das Lesen eine Passion ist, den wird über die reine Lektüre hinaus auch das Drumherum interessieren, Infos über Autoren, Interna aus Verlagen, Daten vom Buchmarkt, das Feuilleton natürlich, aber eben auch, und nicht zuletzt, literaturwissenschaftliche Themen. «Eine Geschichte des Lesens» von Alberto Manguel ist eines dieser Sachbücher, das den nicht nur am Lesegenuss interessierten Liebhaber von Literatur schon vom Titel her neugierig macht. 1996 erstmals erschienen, wird es inzwischen als das Standardwerk zum Thema angesehen, ein dickleibiger Band in prächtiger Aufmachung mit 624 Seiten Kunstdruck, jeder Seite gespickt mit wundervollen farbigen Abbildungen. Der in Argentinien geborene Autor aus einer Diplomatenfamilie, in Israel groß geworden, ist heute kanadischer Staatsbürger, er spricht mehrere Sprachen und war literarisch als Lektor, Dozent, Autor und Übersetzer tätig, seit 2016 ist er Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Manguel hat, als Kind seelisch vereinsamt, selbst früh zum Lesen gefunden, er ist inzwischen ein Bibliophiler durch und durch mit einer stattlichen, 30.000 Bände umfassenden Privatbibliothek.

Seiner Historie des Lesens ist das Zitat «Lies, um zu leben» aus einem Brief von Gustave Flaubert vorangestellt, und sie beginnt mit einem 2005 hinzugefügten Vorwort des Verfassers. Darin berichtet er staunend von seiner Entdeckung «einer weltweiten Gemeinde von Lesern, die auf individuelle Weise und unter Lebensumständen, die sich sehr von meinen unterschieden, die gleichen Erfahrungen gemacht hatten wie ich und die gleichen Initiationsriten, Offenbarungen und Obsessionen mit mir teilten». In den Hauptabschnitten «Akte des Lesens» und «Die Macht des Lesers» beleuchtet Manguel in diversen Kapiteln kenntnisreich alle Aspekte seines Themas bis in die allerletzten Winkel hinein, jener vor sechstausend Jahren entstandenen kulturellen Errungenschaft, deren Auswirkungen auf das Geistesleben man nicht hoch genug veranschlagen kann. Denn erst mit der Schrift, mit Schreiben und Lesen, war das Wissen der Zeit dauerhaft gespeichert und konnte als Fundament dienen, auf das dann weitere Entwicklungen aufbauen konnten.

Erstaunt erfährt man zum Beispiel, dass sich erst ab dem neunten Jahrhundert n. Chr. das stille Lesen endgültig durchgesetzt hatte, vorher wurde meist laut gelesen, körperlich oft auch begleitet von Bewegungen des Lesers, wie sie heute zum Teil noch rhythmisch im jüdischen Gebet praktiziert werden. «Die Ursprachen der Bibel – Aramäisch und Hebräisch – unterscheiden nicht zwischen dem Akt des Lesens und dem des Sprechens, beide werden durch dasselbe Wort ausgedrückt», erfahren wir. Manguels Buch ist eine Sammlung von Geschichten, oft mit netten Anekdoten angereichert, die thematisch, nicht chronologisch gegliedert, ganz unterschiedliche Zeiten und Kulturen umfasst. Dabei schimmert immer wieder die individuelle literarische Biografie des polyglotten Autors hervor, eine Intertextualität, die den Erwartungen seiner deutschen Leserschaft kaum entsprechen dürfte, ein kleiner Wermutstropfen mithin. Ob es um die noch nicht abschließend geklärten physiologischen Vorgänge beim Lesen geht, um das Lesenlernen, das Vorlesen, den weiblichen Leser, die Orte des Lesens, die Geschichte des Papiers, der Schrift und der Buchgestaltung, um Bibliotheken, die Sammelwut der Bibliophilen, die Prestigewirkung des Buches, Bücherdiebe, Bücherverbote und Bücherverbrennungen, um die metaphorische und soziale Komponente des Lesens, dieser Band erweist sich stets als eine historische Fundgrube par excellence.

Dem Liebhaber poetisch gestalteter Texte, dem Leser im engeren Sinne also, steht, so hat es Enzensberger mal konstatiert, der Analphabet als Normalfall der Geschichte gegenüber, zum nicht geringen Teil ja auch noch heutzutage. Wer dieses informative Buch gelesen, besser gesagt studiert hat, der kann ermessen, wie leer ein solches Leben sein muss, so ganz ohne das Manna des Lesens.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main