Leider ist mir dieses Buch erst jetzt bei meiner letzten Poetry-Slam-Tour in Hannover in die Hände gefallen. Ich hab’s gleich mit großer Freude gelesen und möchte andere potentielle Leser an diesem Spaß teilhaben lassen …
Ja, es geht gleich ziemlich verrückt los: ein Typ, der aus dem Rahmen fällt, dieser Finanzcontroller einer Versicherung, der mir als Leser da begegnet, wie er, mit seiner Armbanduhr in der Hand, der Stadtbahn 5 Minuten Verspätung zum Vorwurf macht und ihr, als Fahrgast endlich ganz hinten eingestiegen, mit Blick auf seine Nettolebenszeit diese Rechnung aufmacht:
„Ich benutze immer den hinteren Waggon, da ich berechnet habe, dass dies die Wegstrecke von meiner Zielhaltestelle bis zu meiner Wohnungstür um bis zu 50 Meter verkürzt. Auf diese Weise kann man 30 Sekunden Netto-Lebenszeit einsparen. Das sind 2,5 Minuten pro Woche, 10 Minuten pro Monat, 2 Stunden pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77 Jahren erhöht sich meine Netto-Lebenszeit um 154 Stunden. Bei meinem Brutto-Stundenlohn von 21 Euro 43 und dem zu erwartenden Anstieg des Renteneintrittsalters entspricht das einem Gegenwert von 3.300 Euro und 22 Cent.“
Da ein Roman von der Spannung lebt, trifft der Protagonist, der interessanterweise nie einen Namen abkriegt und die ganze Zeit über als namenloses Ich (als Ich-Erzähler) agiert, auf Sibido, einen nicht minder abgefahrenen Typen, sein Gegenbild, weniger vom Beruf her (Sibido ist Vertriebsmitarbeiter in einem Technologiekonzern) als dem Oufit, dem Lebensstil und Lebensentwurf nach: (nach-)lässiges Äußeres, (im Gegensatz zu ihm) ein „Frauenflüsterer“, (nach-)lässig im Umgang mit Geld, aber: „Ein eigenes Atelier für meine künstlerische Arbeit wäre noch toll. Weißt du, ich will irgendwann mal davon leben können.“
Gegensätzlicher geht’s eigentlich nicht: für den einen sind Zahlen „was Wunderbares“, sie „bringen Ordnung in die Welt“, der andere hat „Probleme mit dem Finanzamt“. Der Protagonist sagt sich: „Sibido ist schon sonderbar, aber in Ordnung … Ich beschließe, dass Sibido mein soziales Projekt wird.“ So kommen die beiden zusammen. Und Sibido hilft beim Frauenproblem etwas nach: Auch wenn es laut Ich-Aussage „für Frauen keine Bedienungsanleitung gibt … keinen funktionstüchtigen Gesprächsleitfaden zur Reproduktionsanbahnung“ sorgt der neue Kumpel dafür, dass er bereits am Ende des 1. Aktenvermerks („First Contact“) nach durchzechter Nacht an der Seite einer „feuerroten“ Schönheit aufwacht: „Ich hatte ungeplanten Geschlechtsverkehr, den ersten in meinem Leben.“
So bewegt und spannend geht’s dann weiter. „Um diese widernatürliche Symbiose zu dokumentieren, hat unser Protagonist seine Begegnungen mit Sibido …gewissenhaft mit dieser Akte archiviert“ (rückwärtiger Buchdeckel), ja, ein Roman, wie der Teil-Titel schon erahnen lässt, in Form von „Aktenvermerken“ 1-16, über 1 Jahr lang, von Januar des einen bis Mai des folgenden Jahres. Und was in dieser Zeit nicht alles passiert, oft unverhofft, kurios, grotesk – echt abgefahren! Eine Buchbesprechung darf nicht alles vorweg nehmen. Deshalb als Leseanreiz nur dies: da taucht im Leben des Protagonisten eine Tara auf, anfangs fast gerichtsvollziehermäßig als Mitarbeiterin der GEZ-Gebühreneinzugszentrale, später als erhoffte Lebenspartnerin umworben mit einer Folien-Präsentation zu „Strategischem Vermögensaufbau“, „Risikolebensversicherung“, „Altersvorsorge“ und dem schlagenden Argument „Wenn du alt bist, bist du nicht nur grau und faltig, sondern auch wohlhabend! Na, was sagst du dazu?“ Und Sibido zieht alle Register bei den Streifzügen der beiden Freunde (natürlich meist begleitet von den Frauen) durch die Stammkneipe, das Fitnessstudio, den Supermarkt, den Sommerschlussverkauf, das Schwimmbad usw. In „Vernissage“ und „Mein neuer Chef“ wird’s unverhohlen zeitkritisch. In „Six Feet Under“ geht’s grotesk zum Bestatter zur „Todesplanung“. Aktenvermerke wie „Sibidos Traumwandel“, „Der Kühlschrank“, „Mein Traumwandel“ verlassen die fiktive Realität des Hier und Jetzt des Romans; da wird’s surreal. Und was wird am Ende der Geschichte(n) aus den beiden Hauptdarstellern? Wird nicht verraten …
Der Untertitel „Ein Poetry-Roman“ deutet das Genre an, mit dem der Leser es zu tun hat. Gerrit Wilanek ist seit Jahren beim „Poetry Slam“ unterwegs, bei diesem modernen Dichterwettstreit, wo die Autoren auf der Bühne selbst verfasste Texte vortragen, sie mit Mimik, Gestik und Körperhaltung „performen“ (wie es Slammer-Szene-mäßig korrekt heißt) und sich dabei dem Urteil des Publikums als Jury stellen. Wilanek gehört zu den bekanntesten Slammern der Slamily-Familie in Deutschland. Seinen Roman präsentiert er in einzelnen Kapiteln („Aktenvermerken“) auf zahlreichen Lesebühnen. Und aus der Szenerie im Schwimmbad geht dann z.B. auch schon mal eine typische Poetry-Slam-Nummer über den Bademeister von früher hervor, ähnlich dem, was der Protagonist im Roman zu Tara sagt: „Schau mal da drüben! Siehst du ihn? Einst deutscher Bademeister, wurde er durch grausame Fort- und Weiterbildungen zum Wellness-Berater dequalifiziert … Aber kann er eigentlich noch eine anständige Arschbombe? … Die deutsche Arschbombe läuft Gefahr, in Vergessenheit zu geraten.“
Über weite Strecken also ein Lesevergnügen. Dieser „Poetry-Roman“ lebt wie alle Komik von der Übertreibung, der Karikatur, der Satire – und dies hier mal in wirklich differenzierter Art und Weise, völlig anders also, als man’s leider heute oft in der Comedy-Szene geboten bekommt. Aber es geht nicht nur ums Lachen, um das sich schnell verflüchtigende Spaß-Haben. Man wird beim Lesen schon bald auch nachdenklich. Dafür sorgt bereits der Titel „Alles in Ordnung“. Mehrdeutig ist er. Und man fragt sich irgendwann: Was ist denn hier eigentlich alles (womöglich nicht) in Ordnung? Der Lebensentwurf des Protagonisten? der seines Gegenspielers Sibido? Geht’s hier vielleicht um Aus- und Aufbruch? Sehnsüchte werden beim Lesen geweckt. Ja, wo soll’s eigentlich (noch) hin gehen? Was für eine „Endzeit“? Nun, lest ihn selbst, diesen (letzten) Aktenvermerk 16 vom Mai …
(Das Buch ist bestellbar über https://m.shop-asp.de/de/decius-hildesheim/, Preis: 10 €)
Eberhard Kleinschmidt