Anarchie in Ruhrstadt

Anarchie in Ruhrstadt Man sagt es schnell so dahin: “Ruhrstadt” – wenn man nach seiner Herkunft gefragt wird. Eine Zeitlang galt das als schick, doch dann liest man wieder vom ewigen Gezänk um das Ruhrparlament und fragt sich, ob das mit der Ruhrstadt wirklich so eine gute Idee ist und ob es nicht hauptsächlich um die Sicherung eigener Pfründe geht. Der Autor Jörg Albrecht hat die Sache mit der Ruhrstadt und der vielbeschworenen Kreativwirtschaft jetzt zu Ende gedacht. In seinem Buch “Anarchie in Ruhrstadt” entwirft er eine Utopie, die ganz schnell zur Dystopie wird und die Rahmenhandlung für das Theatertour-Projekt “Die 54.Stadt – Das Ende der Zukunft” bildet.

September 2044: Rick und Julieta wollen aus der Ruhrstadt fliehen, aber das ist in der streng reglementierten und lückenlos überwachten “Mega-Urbanität” gar nicht so einfach. Sie starten an zwei entgegengesetzten Punkten der Metropole und erleben jeweils eine eigene Odyssee, die einer Albtraumreise durch eine gelebte Freak-Show gleicht. Dass so manches darin “nur” virtuell ist, macht es auch nicht besser, eher noch erschreckender.

Begonnen hatte alles im August 2015. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verkündet den Rückzug ihrer Regierung aus der Mitte NRW’s, der aus dem Exil zurückgekehrte Schriftsteller György Albertz (Cameo-Auftritt des Autors?) übernimmt mit alten Freunden. Ab da gibt es nur noch RoW – Rest of World und die aus ehemals 53 Städten zusammengesetzte Ruhrstadt. Der Ausweg aus der im Ruhrgebiet nach wie vor herrschenden Ratlosigkeit kann nur die Kunst, die Kultur, eben die Kreativwirtschaft sein. Fortan klotzen nun Designer, Autoren, Musiker, Programmierer dort ran, wo einst Kohle gehauen und Stahl gekocht wurde.

Jedem Bezirk wird eine andere Sparte zugeordnet. Im ehemaligen Recklinghausen toben sich nun die Werber aus, die Zeche Zollverein wird zur auch in RoW bewunderten Filmfabrik Whizzo Frizzo, in Mülheim regieren die Videogamer und Programmierer, Dortmund wird zum Zentrum der Modeschöpfer, die Schriftsteller sind am niederrheinischen Rande des Ruhrgebiets in seliger Klausur, Duisburg wird ganz der Natur zurückgegeben und heißt fortan Duschungelburg. Wohl besser so, wachsen hier doch ob der kontaminierten Böden wundersame Pflanzen, um die auch RoW die Ruhrstadt beneidet. Doch was als idealistisches Projekt begann, wird schon bald zu einem alles bestimmenden totalitären System. So wird aus der gewünschten Utopie im Buch eine bittere Satire über ein Gebiet, dass so gerne Metropole wäre und oft genug doch nur belächelt wird, vor allem, weil es sich immer im eigenen “klein klein” verliert.

Etliches aus dem Buch mutet unangenehm bekannt an. Ist es nicht schon jetzt so, im Jahr vier nach der Kulturhauptstadt, dass Dienstleistung und Kultur zum heilsbringenden Strukturwandel aufgeblasen werden? Ist es nicht schon so, dass die Menschen im Ruhrgebiet eine bemerkenswerte Mobilität beweisen, die der der Städteplaner um einiges voraus ist? Jörg Albrecht treibt diese Mobilitätsbereitschaft nur auf die Spitze, indem die Menschen nun nicht nur den Konzerten und Events hinterherreisen, sondern dorthin geschickt werden, wo man ihre Arbeit verortet hat. Oder nehmen wir sein “Dschungelburg”, ehemals Duisburg. Ein gezielter Griff ins private Fotoalbum reicht und Bilder aus dem Duisburger Landschaftspark Nord illustrieren prima, dass diese Utopie längst auf dem Weg in die Wirklichkeit ist.

Dschungelburg

Jörg Albrecht hat eine Zeitlang in Dortmund gelebt und weiß genau, worüber er schreibt, was er kritisiert und was er möchte. Sein Buch steckt voller bitterer Wahrheiten, aber die Verbundenheit zu seiner alten Heimat und die Sorge um diese ist aus seinem Buch deutlich herauszulesen. Es ist nicht so, dass Albrecht die aufblühende Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet nicht begrüßt. Ganz im Gegenteil, es ist gerade mal 10 Jahre her, dass er selbst (vergeblich) in einem Theaterkollektiv versuchte, Subkultur im Ruhrgebiet zu vernetzen. Aber was er sich wünscht und dem Ruhrgebiet empfiehlt, wäre “mehr Heterogenität. Mehr Vielfalt und das auch gerne im Speziellen. Nicht eine Mall nach der anderen, nicht eine Philharmonie nach der nächsten.” *

Das spektakuläre, überspitzte Scheitern seiner Utopie im Buch ist eine klare Mahnung, dass die Konzentration auf die Kreativwirtschaft zum Scheitern verurteilt ist. All die großartigen Industriekultur-Projekte werden die Montanindustrie und den Bergbau nie ersetzen können und der Blick über den Tellerrand der eigenen Stadt, ja mancherorts sogar des eigenen Dorfes tut mehr denn je not. “Anarchie in Ruhrstadt” ist Bestandsaufnahme plus Vision plus Desillusionierung minus Resignation, in Rahmenhandlung gepackt. Auf eine Art ist es das Buch, dass das Ruhrgebiet dringend braucht, auf eine andere Art jedoch ist es nicht massenkompatibel. Das Buch ist schwierig zu lesen, schon alleine, weil die Dramaturgie der Handlung nicht klar aufgebaut ist und durchweg in einem unterkühlten Präsens erzählt wird. Schwierig, sich auf einen Inhalt zu konzentrieren, wenn man fortwährend überlegt, in welcher Zeitzone man sich nun gerade wieder befindet.

Der Stilmix ist gewagt, von Science Fiction über Regieanweisungen bis zu dokumentarischen Bestandsaufnahme geht alles wild durcheinander. Genau wie die Sprache, die sich manchmal noch mitten in einem Absatz von der abgehobenen Sprache der ideologisch Getriebenen hin zur Umgangssprache des kleinen Mannes auf der Straße wandelt. Es ist anzunehmen, dass Albrecht dies bewusst war und er es genau so gewollt hat. Vielleicht ist es eher nicht seine Intention, den “kleinen Mann auf der Straße” zu erreichen oder die Verantwortlichen in den Rathäusern, vielleicht will Albrecht mit diesem Buch und dem Projekt ganz gezielt die bei diesem Thema auffallend unambitioniert wirkende künstlerische Avantgarde ansprechen und aufrütteln, um diese mal in die Diskussion zu zwingen.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 

Zitat Jörg Albrecht in einem Studiogespräch mit WDR 5
D
iese Rezension erschien zunächst in den Revierpassagen.de


Genre: Theater
Illustrated by Wallstein Göttingen

Albsoluter Wahnsinn

Er sitzt bei Günther Jauch auf dem heißen Stuhl, tritt beim europäischen Schlagerfest auf, lässt sich ein Buch von Boris Becker signieren, plagt sich mit marodierenden Zombie-Rentnern im Supermarkt herum, wird in Guantánamo von Elke Heidenreich gefoltert, leidet wie ein Hund im Düsseldorfer Karneval und dann steht auch noch die komplette Geissen-Family vor der Tür.

Dies sind nur einige der Widrigkeiten, die das Leben für Michael Albrecht parat hält; er hat es also wahrlich nicht leicht, aber sein Pech ist das Glück des Lesers, der so in den Genuss kommt, an diesen Events teilzunehmen. Der Autor deckt dabei ein breites Spektrum ab; neben einigen ausgewählten Albträumen (s.o.) beschäftigt er sich auch mit dem grassierenden Wahnsinn in den Bereichen Medien, Politik, Religion, Kultur, Gesellschaft, Soziales, Konsum, Technik und Philosophie.

Die Geschichten und Gedichte (ja, auch die gibt es und sie sind echte Kleinode) sind überaus witzig, der Humor ist aber dabei nicht platt, sondern intelligent; mitunter pointiert sarkastisch, aber nie zynisch formuliert. Michael Albrecht geht wachen Auges durch das Leben und schreibt über Dinge, von denen er etwas versteht; damit unterhält er den Leser nicht nur bestens sondern regt ihn auch zum Nachdenken an und das ist mehr, als man normalerweise geboten bekommt. Gerade in der Kategorie “Humor” finde ich es verdammt schwierig, deutsche Bücher zu finden, die die Messlatte eines Mario Barth oder anderen dieses Kalibers locker überqueren. Dem Autor ist nichts weniger als ein kleines Meisterwerk gelungen.


Genre: Humor und Satire
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