Eine multiple Persönlichkeit
Der einzige vollendete und zu Lebzeiten veröffentlichte Roman des russischen Schriftstellers Michail Lermontow trägt den ironischen Titel «Ein Held unserer Zeit», sein Erscheinen 1840 markiert deutlich das Ende der russischen Romantik, er ist zudem der erste psychologische Roman in dieser Sprache. Mit Puschkin, dem unangefochtenen Nationaldichter jener Zeit, der großen Einfluss auf ihn ausgeübt hat, teilt der nur 27 Jahre alt gewordene Literat neben der Vorliebe für den Kaukasus als Handlungsort auch die Todesart, beide starben mit wenigen Jahren Abstand in einem Duell. Im Vorwort begegnet Lermontow der aufkommenden Kritik, sein Roman beruhe im Kern auf der Schmähung einer Persönlichkeit: «Der Held unserer Zeit, meine Herrschaften, ist in der Tat ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen: es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung». Das war starker Tobak für die damalige Leserschaft, aber seine schreibenden Kollegen wussten es besser. «Niemand in Russland hat je solch eine Prosa geschrieben, so genau, so schön, so köstlich» hat Nikolai Gogol geschwärmt.
Dieser relativ kurze Roman ist im Prinzip aus fünf Novellen zusammengesetzt, er spielt an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Stabshauptmann Maxim erzählt von gemeinsamen Abenteuern mit dem Offizier Petschorin, den er als rätselhaften Sonderling beschreibt. Während der Kur in Pjatigorsk beginnt dieser Draufgänger eine Liaison mit Prinzessin Mary, von der er sich aber nach einiger Zeit wieder trennt, er habe nur mit ihr gespielt, erklärt er ihr. Auch sein kurzes Verhältnis mit der verheirateten Vera geht nicht gut aus, sie schickt dem Hallodri einen Abschiedsbrief. Gruschnitzkij, sein eifersüchtiger Nebenbuhler, der allerlei Gerüchte verbreitet, wird im Duell von Petschorin erschossen. Der wird später zum Dienst auf ein Fort versetzt, verliebt sich dort in die tscherkessische Fürstentochter Bela, die auch der Bandit Kasbitsch begehrt, aber Petschorin entführt sie kurzerhand. Bald jedoch verliert er wieder jedes Interesse an dem Mädchen und sagt es auch ihr ganz unverblümt. Der Ich-Erzähler erhält von Petschorin dessen Tagebuch, in dem eine Episode geschildert ist, bei der in nächtlicher Kartenrunde die Frage der Vorherbestimmung debattiert wird. Petschorin wettet, es gäbe sie nicht, Leutnant Vulic hält dagegen und will das auch gleich an Ort und Stelle klären. Er nimmt im Zimmer des Majors aufs Geratewohl eine von dessen Pistolen vom Nagel und hält sie sich an die Stirn, die Frage, ob sie geladen ist, kann der Major in seiner Verwirrung nicht sicher beantworten. Trotzdem drückt Vulic ab, – es löst sich kein Schuss! «Sie war nicht geladen», rufen alle erleichtert. «Das werden wir sehen» sagt Vulic, spannt den Hahn erneut und schießt auf seine am Haken hängende Schirmmütze, – es knallt, die Mütze ist durchlöchert, die Kugel steckt tief in der Wand.
Der hier nur kurz skizzierte Plot wird von verschiedenen Erzählern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und in diversen zeitlichen Voraus- und Rückblenden erzählt. Sein hedonistischer Held ist ein desillusionierter Fatalist mit charismatischer Ausstrahlung, als intelligenter, bösartiger Unglücksbringer ein Archetyp, der alle Laster der Zeit gleichzeitig zu verkörpern scheint.
Diese ebenso spannende wie bereichernde Geschichte taucht tief hinein in die Abgründe der menschlichen Seele, ihr Held verkörpert zudem erstmals eine multiple Persönlichkeit. Zu seiner Entstehungszeit war der Roman eine ausgemachte Provokation, eine beißende Kritik nämlich an den rückständigen sozialen Verhältnissen unter Zar Nikolaus I. Mit schnörkelloser Diktion, in einer allerdings ziemlich verwirrenden fragmentarischen Erzählweise, liest sich dieser damals avantgardistische Roman mit seinem zynischen Helden heute vor allem als eine interessante psychologische Studie, – ohne irgendwelche moralischen Intentionen.
Fazit: erfreulich
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