“Les actes gratuits ont ils un prix?” etwa: “Haben kostenfreie Handlungen/Akte einen Preis?” _ Typische Graffiti-Schablone von Miss.Tic in St. Germain, Paris. Foto: ©Ruprecht Frieling
Wer die Arbeiten des Londoner Graffiti-Künstler Banksy kennt und schätzt, der wird bei einem Paris-Bummel sicherlich auch schon auf Arbeiten von Miss.Tic gestoßen sein. Die Künstlerin mit dem doppelbödigen Namen besprüht Mauern und Häuserwände mit schwarz-roten Schablonen und verbindet bevorzugt klischeehafte Frauenbilder und poetische Wortspiele.
Die plakativen Arbeiten von Miss.Tic sind von rauer Herzlichkeit und sprühen ein Lokalkolorit, das durchaus als „Pariser Charme“ bezeichnet werden kann. Ihre Frauenbilder entstammen Frauenzeitschriften, die sie verfremdet. Sie selbst sagt dazu: „Ich entwerfe aus ihnen ein bestimmtes Image der Frau, nicht um es zu bewerben, sondern um es zu befragen. Ich unterziehe weibliche Positionen einer Art Inventur. Welche Haltung wählen wir, um zu existieren?“
Miss.Tic bezieht als Künstlerin und als Frau in der Stadt und in der kreativen Welt Stellung. Kreieren heißt für die 1956 in Paris geborene Graffiti-Poetin, Widerstand zu leisten. Sie meint, allem widerstanden zu haben, „nur manchmal der Liebe nicht und niemals dem Humor.“
Die Tochter eines Tunesiers und einer Normannin verlor im Alter von zehn Jahren ihre Mutter durch einen Autounfall. Früh floh sie aus dem derart zerstörten Elternhaus und trieb sich in den Cafés und Cabarets von St. Germain und St. Michel herum. Im „Georges“ in der Rue de Canettes und im „Bâteau ivre“ in der Rue Contrescarpe rezitierte sie Gedichte von Jules Supervielle, René Char, Jean Cocteau und Jacques Prévert. Die Wirklichkeit um sie herum zerfetzte ihr romantisches Bild von St. Germain: Sie traf auf versoffene Genies und Künstler, die sich maßlos überschätzten.
Mit einem Freund verließ sie 1980 Frankreich und zog nach Los Angeles. Dort kamen gerade Hip-Hop und Street Art auf. Im Zuge der Bewegung entstanden bemalte Häuserwände, die schon aus der mexikanischen Revolutionskunst bekannt waren. 1983 kehrte Miss.Tic wieder nach Paris zurück. In jeder Zeit verließen die ersten Künstler ihre Ateliers, übermalten Werbeplakate, bemalten Bauzäune und Wände. 1985 trat sie selbst mit Schablonenbildern in Erscheinung. Im 14. Arrondissement sprühte sie ihre ersten Wortbilder auf Häuserwände. Sie verband von Anfang an ihre Motive mit Textzeile und Signatur.
Miss.Tic erklärt sich weder politisch noch will sie Feministin sein. Sie hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. Ihre Arbeiten wurden mal von links, mal von rechts angegriffen, bisweilen sogar von Hardcorefeministinnen, denen ihre Arbeiten zu glamourös und sexy sind, übersprüht und überklebt. Lakonisch sagt sie dazu: „Es ist nicht die Rolle des Künstlers, von allen geliebt zu werden“. Bewusst überlässt sie die Interpretation ihrer Arbeiten auch dem Betrachter und hat keine Lust, irgendetwas zu erklären, zumal ihre Graffiti oft in direktem Bezug zur Umgebung steht.
1999 wurde die Künstlerin in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Sachbeschädigung zu 22.000 Franc Strafe verurteilt. Ausgerechnet dieser Prozess verschaffte ihr einen Karrieresprung. Sie wurde vom Status einer Straffälligen, die mit der Spraydose (französisch: la bombe) hantierte, zu einer anerkannten Künstlerin befördert, deren Genehmigungsgesuche seitdem akzeptiert werden. So sind ihre Arbeiten heute weniger als nächtliche Überraschungsangriffe à la Banksy zu sehen sondern als geplante Kunstaktionen im öffentlichen Raum, die viele Kunstfreunde nach Paris lockt.
Jorinde Reznikoff und KP Flügel haben Miss.Tic in einem wundervollen kleinen Büchlein zu Wort kommen lassen, das in der Edition Nautilus erschienen ist. Wer sich ausführlicher mit der Pariser Graffiti-Künstlerin befassen möchte, der wird mit diesem autobiographisch angelegten schlanken Werk ausgezeichnet bedient.
Diskussion dieser Rezension im KunstBlog